Menschenbild: Hast Du ein Menschenbild? Oder genauer gefragt: Bist Du Dir dessen bewusst? Was macht uns Deiner Ansicht nach zu Menschen, zeichnet uns aus, unabhängig von sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen und -prägungen? Gibt es überhaupt solche transkulturellen Konstanten? Inwiefern spielt es Deiner Ansicht nach eine Rolle für Deine Entscheidungen und Handlungen? In welchem Verhältnis steht es zu Deinen persönlichen Werten?
Im ersten Moment mag die Reflexion über unser Menschenbild als sophistische Spielerei erscheinen. Ist es überhaupt wichtig, welches Bild wir uns von uns Menschen machen? Letztlich muss das jede und jeder für sich selbst entscheiden. Gleichzeitig ist das Menschenbild unhintergehbar, egal ob es uns bewusst ist oder nicht. Denn es bildet in vielen Fällen die Grundlage für eine Reihe wichtiger Entscheidungen und Positionierungen in unserer Welt: Vertrauen wir unseren Mitmenschen tendenziell eher, oder fürchten wir hinter jedem Satz und jeder Tat den puren Egoismus der anderen, so dass sie uns versuchen über den Tisch zu ziehen? Brauchen wir die staatliche Gewalt vor allem deshalb, weil wir uns sonst gegenseitig in blanker Barbarei niedermeucheln würden, wie es wegweisend Thomas Hobbes seinem Leviathan zu Grunde legte [1]? Wie steht es um unser Menschenbild im Rahmen unserer Wirtschaft und ihrer Arbeitsverhältnisse? Es macht ganz offensichtlich einen erheblichen Unterschied, ob wir wie in der klassischen Ökonomie von einem Eigennutzen maximierenden homo oeconomicus ausgehen, der seine Entscheidungen rein rational auf der Basis vollständiger Information trifft oder ob wir das für Unfug halten. Natürlich können wir über eine solch klassische egoistische Zuschreibung die fortwährende Kontrolle der Angestellten legitimieren. Und wie erziehen wir unsere Kinder und bereiten sie auf Ihr Leben vor, wenn wir dies oder das als generelle Eigenschaften von Menschen annehmen? Unser Menschenbild ist also für viele Lebensbereiche entscheidend. Deshalb ist es wichtig, seine eigenen Vorstellungen dazu kritisch zu reflektieren.
Menschenbild: Konstruktion und Wahrheit
Wer sich mit Menschenbildern auseinandersetzt, stößt schnell auf zwei grundsätzliche Positionen. Einerseits wird herausgearbeitet, dass Menschenbilder trotz der Behauptung genereller Attribute “… stets als Konstruktionen zu betrachten [sind], die “nicht einfach vorgefunden werden oder unabhängig vom Menschen existieren, sondern (…) nach Bedarfslage, Zielsetzung und weltanschaulicher Orientierung” immer wieder neu entworfen werden müssen. Trotz ihres Anspruchs auf universelle Geltung gehen Menschenbilder also immer aus einem bestimmten geschichtlichen Kontext hervor und sind daher historisch kontingent.” (Süer 2013) Das ist genauso wahr wie falsch. Einerseits sind Begriffe zwingend sprachliche Konstruktionen, die abhängig von den jeweiligen historischen, sozialen, wirtschaftlichen und anderen Rahmenbedingungen gebildet werden. Hinzu kommt die jeweils individuelle Bedeutungszuschreibung. Der eine versteht unter “Liebe” dies, die andere das. Vermutlich dürfte so manche Liebesbeziehung auseinandergegangen sein, weil sich das Begriffsversändnis entweder als letztlich inkompatibel erwiesen oder im Laufe der Zeit unpassend entwickelt hat. Interessant wäre, ob es Sprachen gibt, in denen es kein Pendant zu unserem deutschen Begriff Menschenbild gibt und welche Konsequenzen das hat.
Gleichzeitig ist diese konstruktivistische Sicht keine vollumfängliche Wahrheit, so wie der (radikale) Konstruktivismus insgesamt als erkenntnistheoretisches Konzept ein performativer Widerspruch ist: Wenn alle Erkenntnisse nur von uns abhängige Konstruktionen sind, dann gilt dies selbstverständlich auch für den Konstruktivismus selbst [2]. Infolgedessen ist es weder ein Widerspruch noch eine Überraschung, dass bestimmte Inhalte eines Menschenbildes nicht historisch kontingent, also mehr oder minder zufällig und nicht zwingend sind. Jeder Mensch, den wir evolutionsbiologisch so bezeichnen, hatte bis heute bestimmte biologische Grundbedürfnisse: Wir müssen atmen, trinken, essen, schlafen, uns bewegen etc. Ansonsten sind wir bald tot oder sehr krank. Da gibt es keinerlei Konstruktion. Jedes menschliche Baby, egal wann und wo es geboren wurde, braucht den Schutz und die Versorgung durch ältere Menschen. Und nicht nur das, sondern auch den sozialen Kontakt und idealerweise eine liebevolle Bindung. Besonders bekannt ist in diesem Zusammenhang das immer wieder kolportierte “Experiment” Friedrich II. Er habe Kinder beschränkt auf die physiologische Grundversorgung ohne weitere Beziehungsaufnahme aufwachsen lassen, um herauszufinden, was die menschliche Ursprache sei. Tragischerweise sind – wenn die Geschichte stimmt – alle Kinder frühzeitig gestorben. Auch wenn wir davon ausgehen, dass diese Geschichte eher eine Mär ist, so wissen wir heute sehr wohl um die deprivierende Schädigung von Babies und Kleinkindern, die nur eine physiologische Grundversorgung erhalten.
Unser Menschenbild sollte auf nicht-kontingenten, empirischen Fakten transtemporaler und -kultureller Gemeinsamkeiten gründen.
Insofern plädiere ich für ein Menschenbild, dass auf diesen nicht-kontingenten, empirischen Fakten transtemporaler und -kultureller (Zeuch 2021) Gemeinsamkeiten gründet. Denn für alle Fragen wichtiger Lebensbereiche wie unser Staatswesen und unsere Arbeitsverhältnisse sollten wir das zugrunde legen, was mehr ist als nur eine Hypothese oder persönlicher Glaube. Schließlich führt ein homo homini lupus est im Staatswesen und der Politik zu völlig anderen Gesellschaftsverträgen als ein positiveres Menschenbild ebenso wie in der Unternehmensführung der homo oeconomicus eine andere Führung und Gestaltung zeitigt als das Menschenbild des complex man. Sofern nötig, können wir dann ergänzend kulturelle Unterschiede herausarbeiten, je nachdem, wofür wir das Menschenbild als begriffliches Instrument einsetzen wollen.
Besser als (oft) gedacht
Stell Dir bitte kurz folgendes Szenario vor: Ein Flugzeug erleidet einen massiven Triebwerksschaden und muss in der freien Natur notlanden. Dabei erleidet es erheblichen Schaden, es zerbricht in zwei Teile, einige Sitze wurden aus der Verankerung gerissen und Gepäck fliegt durch die Gegend. Die Maschine ist fast voll und nach dem Absturz müssen aufgrund von Explosionsgefahr alle sofort raus. Was würden wir beobachten:
- Variante 1: Die Passagiere kümmern sich umeinander. Sie fragen sich gegenseitig, ob alles ok ist, ob sie verletzt sind usw. Wer Hilfe braucht bekommt sie und wird vorgelassen. Verletze, Kinder, alte Menschen werden unterstützt.
- Variante 2: Chaos bricht aus. Jeder ist sich selbst der nächste, hilft vielleicht noch dem Partner, den eigenen Kindern aber mehr nicht. Wenn es eng wird, werden andere sogar übergangen, weggeschubst, niedergetrampelt.
Welche Variante entspricht eher der Wirklichkeit? Eins oder Zwei?
Solltest Du Dich für Variante 2 entschieden haben, befindest Du Dich in Gesellschaft der absoluten Mehrheit. Tom Postmes, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Groningen, stellt dieses Szenario schon seit Jahren seinen Student:innen vor und stellt ihnen dann die obige Frage (etwas variiert). Seiner Einschätzung nach votieren weit über 90% für das egoistische Menschenbild. “«Erstsemester wissen es nicht, Drittsemester auch nicht, Masterstudenten nicht, und auch viele Profis liegen falsch, selbst Katastrophenschutzkräfte haben keine Ahnung», seufzt Postmes. «Die Forschung ist nicht daran schuld. Dabei könnte man seit dem Zweiten Weltkrieg darüber Bescheid wissen.»” (vgl. Bregmann 2021: Kapitel 1, Abschnitt 1). Es ist eben keineswegs so, dass uns nur eine dünne zivilisatorische Schicht vor der Barbarei schützt, eine zerbrechliche Fassade, die sofort zusammenbricht, wenn es hart auf hart kommt. Diese “Fassadentheorie” (de Waaal 2015: 32) dekonstruiert Rutger Bregmann in seinem Buch ebenso wie viele andere Vor-Urteile über uns Menschen, unter anderem durch den faszinierenden “echten Herr(n) der Fliegen”. Ganz anders als in dem rein fiktiven Weltbestseller kam es in einem sehr ähnlichen, aber tatsächlichen Fall keineswegs zum Zusammenbruch der zivilisatorischen Fassade. Es passierte ziemlich genau das Gegenteil. Die Gestrandeten blieben ein Leben lang enge Freunde (ebnd., Kapitel 2).
Wichtig ist dabei, dass unser Menschenbild nicht nur insofern bedeutsam ist, als dass wir daraus innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Sektoren (Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Staat) Strukturen und Prozesse ableiten, sondern dass unser Glaube auch eine selbsterfüllende Prophezeiung ist. Wenn ich Dir und allen anderen Menschen verallgemeinernd unterstelle, dass Du nur an Dich selbst denkst und mich bei der nächsten Gelegenheit über den Tisch ziehen willst, dann werde ich mich entsprechend misstrauisch verhalten und damit wiederum Dein Verhalten beeinflussen. Begegne ich indes meinen Mitmenschen mit einem allgemeinen Vertrauensvorschuss, dann erzeugt das im Allgemeinen bei meinem Gegenüber andere Reaktionen. Wir sollten sorgsam mit unseren (impliziten) Erwartungen an andere Menschen umgehen, wie der viel beforschte Pygmalion[3]- bzw. dessen Gegenteil, der Golem-Effekt (Rosenthal & Jacobson 1971) illustriert. Dieser Erwartungseffekt wurde später nicht nur in Schulen sondern auch in anderen Bereichen wie der Arbeitswelt reproduziert (Eden 1984, 1993).
Transkulturelle und -temporale Eigenschaften
Wie oben schon angedeutet: Wir können entgegen der konstruktivistischen Position sehr wohl menschliche Eigenschaften beschreiben, die keine soziale, bzw. individuelle Konstruktion sind. Dies sind meines Erachtens zumindest die Folgenden:
- Wir alle sind als soziale Wesen geboren, was insbesondere in den ersten hochgradig fragilen Jahren bedeutsam ist, in denen wir zu allen Zeiten an allen Orten ohne Umsorgung nicht lebensfähig waren und sind. In dieser Phase sollte unser persönliches Fundament geschaffen werden: Das Urvertrauen in die Welt, unsere Mitmenschen und uns selbst.
- Wir werden alle als kreative Wesen geboren. Manche mehr, manche weniger. Aber wir alle suchen in der einen oder anderen Form einen kommunikativen Ausdruck. Zeitlich und kulturell unterscheiden sich nur die Mittel wie Kleidung, Wohnungseinrichtungen, Gruppenzugehörigkeit, Publikationen (wie dieser Blogpost) bis hin zu künstlerischen Werken und vieles mehr.
- Wir werden alle neugierig geboren. Als Babys und kleine Kinder beginnen wir von ganz allein, die Welt um uns herum zu entdecken. Diese Neugier (zentral für einen erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit!) verlieren einige von uns aus verschiedenen Gründen erst im Laufe des Er-Wachsens.
- Wir alle sind lernfähig. Ab dem Moment unserer Geburt lernen wir ohne Unterlass alles Mögliche: Greifen, Fortbewegung bis hin zum Laufen, Springen, Rennen, Schwimmen, Radfahren, Reden, Kommunizieren, Interagieren, Lesen, Schreiben, Rechnen …
- Wir alle wollen Wirksamkeit erzeugen, wir versuchen am Anfang unsere direkte Umgebung zu beeinflussen. Später wollen wir zum Teil auch auf die Welt darüber hinaus Einfluss ausüben. Wir wollen selbstwirksam sein.
- Wir alle suchen als Erwachsene nach einer dynamischen Balance aus Selbstbestimmung und Freiheit einerseits sowie Bindung und Zugehörigkeit andererseits. Mal brauchen wir mehr vom einen, mal mehr vom anderen. Dauerhaft auf einer Seite zu sein, ist ein pathologisches Muster (dissoziiert-schizoid vs. antriebslos-depressiv).
- Unser aller Nichtwissen (vgl. Zeuch 2007, 2021) übersteigt unser jeweiliges Wissen. Das scheint trivial, aber faktisch werden zumindest in den Kulturen der nördlich-industrialisierten Sphäre Statusunterschiede insbesondere auch durch Wissen und Kompetenz definiert und markiert. Dabei bleiben wir vor allem eines: Nicht-Wissende (wer zB promoviert hat weiß, dass mit zunehmendem Wissen und Erkennen zugleich immer weitere Fragen auftauchen. Je mehr ich weiß… [4] )
- Wir alle entscheiden immer rational und intuitiv-emotional. Kein gesunder Mensch kann eher rationale Entscheidungen völlig von emotionalen und unbewussten Impulsen und Einflüssen frei halten (vgl. Zeuch 2003). Unterschiedlich ist vor allem die Bewertung und der jeweilige Umgang mit rationalen, intuitiven und emotionalen Anteilen der Entscheidungsfindung [5].
Über diese individuellen Aspekte hinaus können wir unser Menschenbild zudem auch noch auf einer kollektiven Makroebene als Gesellschaften reflektieren. Gehen wir wie bis heute zumeist angenommen und immer weiter fortgeschrieben davon aus, dass wir erst durch den Zivilisationsprozess (Elias 1939/2010) den ursprünglichen Überlebenskampf aller gegen alle, das “Gesetz des Dschungels” von Fressen und gefressen werden überwinden konnten? Oder halten wir es für überzeugender, wie es Rousseau schon pointierte, dass wir erstens alle frei geboren sind aber “überall in Banden” leben (1762/2016: 1. Kapitel, Abschnitt 1) und dass es zweitens gerade die neolithische Revolution und die Erfindung des Eigentums war, die viel mehr Konflikte erzeugte als unser Leben zuvor als Jäger und Sammler oder oszillierende Mischformen zwischen Jägern/Sammlern und Bauern (Graeber & Wengrow 2021)? Zu einer deutlich anderen Sichtweise kommen hochaktuell der leider schon viel zu früh verstorbene Anthropologe David Graeber und sein Ko-Autor, der Archäologe David Wengrow. In ihrem umfassenden Werk “Anfänge” widerlegen sie mit einem überwältigenden Panoptikum an historischen Beispielen aus vielfältigsten Kulturen das bisherige Leitnarrativ vom Zivilisationsprozess und seinen angeblichen Notwendigkeiten, die sich aus komplexen Gesellschaften ergeben würden.
Ein Menschenbild, dass diese Attribute auf der Mikro- und Makroebene als zentrale Merkmale begreift, führt zu völlig anderen Konsequenzen, als wenn wir den in den Wirtschaftswissenschaften bis heute dominierenden homo oeconomicus [6] und den ebenso fortlaufend kolportierten Zivilisationsprozess (Elias) zu Grunde legen. Und zwar erstens im Verhalten einzelner Menschen. Zweitens auf der Mesoebene unserer Organisationen und ihrer Organisationsdesigns (Aufbau- und Ablauforganisation). Und schließlich drittens auf der Makroebene (supra)nationaler gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse wie Regierungsformen, Wirtschaftssysteme etc.
Das Problem ist also viel weniger unser tatsächliches Verhalten. Sondern das Bild, das wir uns von uns machen und das zu vielen destruktiven Konsequenzen führt.
Diskutiere mit uns über Dein & unser Menschenbild
Wir würden uns freuen, Dich am 19. Mai 2022 von 19:00 – 20:30 zu unserer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Salon Luitpold zu begrüßen. Du kannst vor Ort live in München dabei sein oder auch remote! Das von uns kuratierte und moderierte Thema:
„Menschen. Bild. Störung?“ Einverstanden?
Warum ist es wichtig welches Menschenbild wir unseren Handlungen zugrunde legen? Ist das nicht eine sophistische Frage für elitäre philosophische Zirkel? Ganz und gar nicht. Denn der Kapitalismus durchdringt alle unsere Lebensbereiche und basiert auf dem Menschenbild des homo oeconomicus, das genauso zentrale Fragen aufwirft, wie das Menschenbild moderner Demokratietheoretiker wie Joseph Schumpeter: Sind wir wirklich nur auf unseren Eigennutzen aus? Entscheiden wir grundsätzlich rational? Sind wir als Masse der Raserei (Schumpeter) ausgeliefert? Will “der Mensch” eher mitgestalten oder geführt werden? Diese und weitere Fragen bestimmen maßgeblich, wie wir miteinander umgehen, inwiefern wir uns vertrauen, wir wir unsere Kinder auf ihr Leben vorbereiten und nicht zuletzt, wie wir unsere Gesellschaft und Demokratie von morgen gestalten.
Gäste: Prof. Dr. Uwe Schneidewind (nimmt digital teil), Oberbürgermeister von Wuppertal, ehemaliger Direktor des Wuppertal Institut und Berater der Bundesregierung im Rahmen des Wissenschaftlichen Beirats für globale Umweltveränderungen, WBGU. Wir bemühen uns aktuell noch um einen weiblichen Gast (bislang haben die Frauen leider entweder keine Zeit gehabt oder nicht reagiert).
Moderation: Dr. Andreas Zeuch
Anmeldung: Bitte melde Dich sich hier zur Veranstaltung vor Ort oder zum Livestream an: Anmeldung.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Dabei sollten wir bei Hobbes nicht vergessen, dass sein Leviathan 1651 zwei Jahre nach dem Ende des Englischen Bürgerkriegs veröffentlicht wurde. Es dürfte keine allzu gewagte Annahme sein, dass dieser Krieg von 1642-1649 sein Menschenbild maßgeblich geprägt hat.
[2] Das ist etwas verkürzt. Genauer besteht der Widerspruch darin, dass die Voraussetzung des radikalen Konstruktivismus darin liegt, dass die sogenannte operative Geschlossenheit unseres Nervensystems keine Konstruktion sondern wahr sein muss, um als Voraussetzung gelten zu können. Sprich: Wir nehmen die Welt nie direkt wahr, sondern immer nur durch unsere Sinnesorgane und mentalen Brillen gefiltert und können uns immer nur selbstbezüglich darauf beziehen. Dann folgt aber, dass man ” … schwerlich einen Teil des konstruierten menschlichen Wissens realistisch deuten [kann], um zu begründen, menschliches Wissen insgesamt sei nicht realistisch.” (Saalmann 2007: 10)
[3]”1965 entdeckte der … amerikanische Psychologe Robert Rosenthal den nach ihm benannten Rosenthal-Effekt (auch bekannt als Pygmalion-Effekt)… Rosenthal und seine Kollegin Leonore Jacobsen untersuchten die Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern an zwei Grundschulen. Dazu lockten sie die Lehrer auf eine falsche Fährte, indem sie ihnen erzählten, dass ein Testverfahren mit den Schülern durchgeführt werde, um Hochbegabte zu identifizieren, die kurz vor dem nächsten Entwicklungsschub stünden. Die solchermaßen ausgewählten Kinder waren jedoch keineswegs intelligenter als die anderen, sondern willkürlich ausgewählt. Als diese Kinder nach einem Jahr wieder auf ihren Intelligenzquotienten hin untersucht wurden, zeigte sich, dass sie ihren IQ deutlich mehr steigern konnten als die Kinder aus der Kontrollgruppe der »nicht Hochbegabten«.” (Zeuch 2010: 94)
[4] Nicht umsonst gibt es den Dunning-Kruger-Effekt: Je weniger kompetent und wissend, desto eher überschätzt eine Person die eigenen Fähigkeiten. Im Verhältnis zu kompetenteren Menschen formuliert: Je weniger kompetent und wissend, desto eher kommt es zu einer Selbstüberschätzung. Tatsächliches Wissen und Kompetenz verhalten sich reziprok zur Selbsteinschätzung. Es bedarf also einer gewissen Grundintelligenz, um die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens selbst-bewusst wahrnehmen zu können. Der Umgang mit diesem Nichtwissen und -können ist dann noch etwas anderes (vgl Zeuch 2007).
[5] Im Rahmen meiner Dissertation zum Training professioneller intuitiver Selbstregulation (Zeuch 2003) stieß ich auch auf interkulturelle Untersuchungen zum Wert der Intuition im professionellen Kontext. Parikh (1994) vergleich beispielsweise 1312 Manager relativ großer industrieller und Dienstleistungsunternehmen aus insgesamt 9 verschiedenen Ländern mit weit entwickelten Wirtschaftsmärkten (Österreich, Frankreich, Niederlande, Schweden, England, Japan und USA), aus Entwicklungsländern mit mittlerem Einkommen (Brasilien) und mit niedrigem Einkommen (Indien).
[6] Die neoklassiche Ökonomie, hier basierend auf der Arbeit von Robert Lucas zu rationalen Erwartungen, muss sich die Frage gefallen lassen, wie wissenschaftlich sie überhaupt ist, wenn sie die überwältigenden empirischen Forschungsergebnisse zu den verschiedenen proklamierten Attributen ihres frei erfundenen Menschenbildes erst über Jahrzehnte ignoriert hat und selbst heute noch im Studium zumeist vor die empirisch fundierten Erkenntnisse der Verhaltensökonomie setzt. Selbst ohne den interdisziplinären Forschungsstand dürfte klar sein, dass die Voraussetzung der vollständigen Information zur rein rationalen Entscheidungsfindung eine faktenfreie Fiktion ist. Diese Voraussetzung zu einer der Grundlagen wissenschaftlicher Modellierungen von Menschen, Märkten und Institutionen zu machen, ist – gelinde gesagt – gewagt.
Literatur
- Bregman, R. (2021): Im Grunde gut. eine neue Geschichte der Menschheit. rowohlt (Kindle Version)
- de Waal, F. (2015): Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote. Moral ist älter als Religion. Klett-Cotta
- Eden, D. (1984): Selffulfilling Prophecy as a Management Tool: Harnessing Pygmalion. Academy of Management Review9(1): 64–73. DOI: https://doi.org/10.2307/258233.
- Eden, D. (1993): Leadership and expectations: Pygmalion effects and other self-fulfilling prophecies in organizations. The Leadership Quarterly 3(4): 271–305. DOI: 10.1016/1048-9843(92)90018-b
- Elias, N. (1939/2010): Über den Prozess der Zivilisation. Bd. 1 suhrkamp taschenbuch wissenschaft
- Graeber, D. & Wengrow, D. (2021): Anfänge. Klett-Cotta
- Parikh, J. (1994): Intuition. The new frontier of management. Blackwell
- Rosenthal, T.; Jacobson (1971): Pygmalion im Unterricht. Beltz
- Rousseau, J.-J. (1762/22016): Der Gesellschaftsvertrag. Die Grundsätze des Staatsrechts. Hofenberg Digital (Kindle Version)
- Saalmann, G. (2007): Argumente gegen die Radikalität des Radikalen Konstruktivismus. The Radical Constructivism Homepage Papers Archive
- Süer, A. (2013): Menschenbilder der Moderne. Bundeszentrale für politische Bildung
- Zeuch, A. (2003): Training professioneller intuitiver Selbstregulation. Theorie, Empirie und Praxis. (Dissertation auf Anfrage als PDF) Verlag Dr. Kovac
- Zeuch, A. (2007): Management von Nichtwissen in Unternehmen. Carl-Auer
- Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley
- Zeuch, A. (2021): Das Menschenbild im Zeitalter digital-globaler Wirtschaft. Blog des Instituts für Sozialstrategie
- Zeuch, A. (2021): Nichtwissen. Mehr als fehlende Daten. Blog der unternehmensdemokraten
Bildnachweis
- Beitragsbild: v.r.n.l.: ©SwapnIl Dwivedi, Ravi Patel, Hazel Aksoy, Darsha Patel, unsplash lizenzfrei , Mashup: @Andreas Zeuch
- Leviathan: gemeinfrei
- Hurrikan Katrina/überlutetes New Orleans: ©AP Photo/U.S. Coast Guard, Petty Officer 2nd Class Kyle Niemi, gemeinfrei
- Anfänge: Buchcover
- Website Cafe Luitpold: Screenshot mit freundlicher Genehmigug
Wichtige Fragen! Man sagt ja, ein Herdenschutzhund, der unter Schafen aufwächst, hält sich für ein Schaf – vielleicht macht es uns aus, dass wir uns diese Fragen stellen können.
Mit Bezug auf den einleitenden Teil würde ich einen gedanklichen Strang weiter ausführen. Wir können entscheiden und gestalten, dadurch wird vieles zur Konstruktion. Wir handeln immer unter Bedingungen, viele davon sind konstruiert. Beschützen sollten wir aber immer die Freiheitgrade, die wir benötigen, um unter den gegebenen Bedingungen und nach Stand der Erkenntnis die Welt im Kleinen und Großen besser zu machen. Bei allem, was zu unerwünschten Folgen führte, sollten wir hinterher schlauer sein, das klappt offensichtlich nur bedingt. Mit Dietrich Bonhoeffer hätte ich da auch immer einen Blick auf das Dumme und das Böse. Wenn die Dummheit ein Gruppenphänomen ist, scheint es sinnvoll, Arrangements zu etablieren, die das Zusammenleben regeln und da scheint es in der Menschheitsgeschichte bewährte Konstruktionen zu geben. So liegt etwa auch unserem Grundgesetz ein gewisses so begründetes Menschenbild zu Grunde, das eher eine Idealvorstellung, als erfüllbar ist. Rechtstheoretisch ist es aber die Rechtfertigung dafür, dass uns viele Rechte zugestanden werden, weshalb wir dieses Ideal anstreben sollten, wollen wir benannte Rechte nicht verlieren. Gesellschaft ist immer ein Spagat zwischen Öffnung und Abgrenzung – daher gibt´s ja daher auch kein “Richtig” für die Gesamtheit der Menschen und unterschiedliche Gesellschaften haben unterschiedliche Arrangements. Dem haben wir leider zu wenig Bedeutung gegeben, als Globalisierung um sich griff. Statt am Ideal orientierte Welt-Arrangements miteinander auszuhandeln, haben wir dem Schurken-Kapitalismus (so sagte der bessere Helmut das) zu viel Raum gegeben. Man kann auch Rechte verlieren, weil die Bedingungen sich ändern und die Konstruktion zusammenbricht.
Kann was, aber gefährlich dumm der Mensch …
Beste Grüße
Peter
Danke für Deine Anmerkungen. Dummheit ist kein zwingendes Gruppenphänomen, es gibt ja genug Forschung zu den Bedingungen erfolgreicher kollektiver Intelligenz. Wir wissen ganz gut, wie wir umgekehrt Herdendummheit verhindern können.
“So liegt etwa auch unserem Grundgesetz ein gewisses so begründetes Menschenbild zu Grunde, das eher eine Idealvorstellung, als erfüllbar ist.” Was genau meinst du damit?
Die menschliche Verfassung ist m.E. stark abhängig von den Bedingungen des Er-Wachsens.
[…] Den Artikel "Menschenbild und Unternehmensdemokratie" zum Salon finden Sie hier. […]
Moin Andreas.
Bonhoeffer hat versucht, die Greultaten des Nationalsozialismus zu erklären. Egal wie man das nennt, bleibt es schwer zu verstehen, warum sich immer wieder in der Geschichte so große Gruppen von Menschen der Verblendung hingeben, obwohl sie es besser wissen könnten. Insofern gebe ich Dir recht, dass wir wissen, wie es besser geht. Aber was fehlt, damit diese Erkenntnisse in der Fläche handlungsleitend werden? Beziehungsweise welchen Hemmnissen müssen wir begegnen? Habe beim Hören eines Interviews mit Heidi Kastner eine vielleicht dazu passende Definition von “Dummheit” aufgeschnappt. Sinngemäß sympathisierte Frau Kastner mit der Umschreibung: Das Akzeptieren einer absoluten Subjektivität, die sich nicht hinterfragen lässt. Ich glaube, das passt zu meinen Gedanken.
Zum Menschenbild in der Verfassung: Das ist natürlich das Hintergrundleuchten bei allen möglichen Aspekten, die Du oben mit den “Gemeinsamkeiten” umschreibst. Was ist etwa die Quelle unserer Grundrechte? Da wird es dann immer moralphilosophisch. Und natürlich können/sollen/müssen wir unsere generationenübergreifenden Lernleistungen über Werte-Bildung transportieren, solange wir kein Alternativkonzept zur Aufklärung haben. Aber genau das sind ja die Stellen wo es hängt. Warum schreit z.B. keiner auf, wenn sich die Regierung in Koalitionsverträgen das Monopol auf die Qualitätskontrolle der politischen Bildung zuschreibt und gleichzeitig die Mittel für politische Bildung kürzt?
Daher habe ich mehr auf die Konstitution der Gesellschaft, als des Individuums abgestellt, die muss erarbeitet werden, weil wir mit dem wachsen lassen leider keine guten Erfahrungen gemacht haben.
Gruß Peter