Sind Unternehmen Diktaturen?

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Unternehmensdiktatur: Was ich im Titel dieses Beitrags als kritische Frage verstehe, ist eine Behauptung der amerikanischen Philosophin Elisabeth Anderson. In ihrem 2017 veröffentlichten Buch “Private Regierung” ist sie zu diesem Ergebnis gekommen. Anderson ist keine ideologisch aufgeladene Spinnerin, sie studierte in Harvard, machte dort ihren Master und Ph.D. Neben Mitgliedschaften in diversen akademischen Gesellschaften wurde sie 2019 McArthur Fellow, ein jährlich vergebener Preis der McArthur Foundation für US Amerikaner, die sich besonders verdient gemacht haben und von denen zukünftig kreative Arbeit erwartet wird. Aber dieses positive argumentum ad hominem ist natürlich kein Ersatz für echte Argumente. Wie also kommt Anderson zu ihrer These?

Bevor wir dem nachgehen noch vorab eine kurze Überlegung: “Unternehmen sind keine demokratische Veranstaltung.” Das habe ich in den letzten Jahren immer wieder gehört. Das ist  im Sinne einer Beschreibung des Status Quo absolut zutreffend, wobei die Redner – mal wieder ausschließlich Männer – diese Aussage freilich normativ meinen. Geschätzt trifft es für 99,9% aller 3,025 Millionen deutschen Unternehmen in 2020 (Statista) zu. Da stellt sich eine interessante Frage innerhalb eines Vergleichs zwischen staatlichen und privaten Regierungen:

Wenn also Unternehmen keine Demokratien sind – was sind sie dann?

Das vielleicht Wichtigste zu Beginn, es stellt zumindest für den Anfang der Auseinandersetzung mit Elisabeth Andersons These eine bedeutende Relativierung dar: Sie bezieht sich mit ihrer Analyse und Aussage auf die US amerikanische Wirtschaft und deren Unternehmen. Das betrifft sowohl ihre wirtschaftsgeschichtliche Herleitung als auch ihre verschiedenen unternehmerischen Fallbeispiele und Analyse der aktuellen unternehmerischen Verhältnisse. Gerade im Vergleich zu Europa und insbesondere zu Deutschland sieht sie nicht nur erhebliche Unterschiede, sondern schlägt auch vor, dass die Wirtschaft der USA gerade von Deutschland hinsichtlich unserer gesetzlich regulierten Mitbestimmung lernen kann und sollte.

Zweitens stellt Werner Nienhüser, zu dessen Beitrag über die deutschen Verhältnisse ich im zweiten Abschnitt komme, in seinem aktuellen Artikel klar: “Bei der Anwendung des Diktaturbegriffs darf nicht ignoriert werden, dass Menschen in staatlichen Diktaturen um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie Widerstand leisten oder auch nur Kritik gegenüber der Regierung üben. Angriffen auf Leib und Leben ausgesetzt sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in deutschen Unternehmen (in Deutschland) wohl nur in extremen Ausnahmefällen.” (Nienhüser 2022: 289). Ähnlich sehe ich es auch in den US Unternehmen, auf die sich Anderson bezieht. Auch wenn allein deshalb die Anwendung des Diktaturbegriffs auf Unternehmen nachvollziehbar kritisiert werden kann, so lohnt die Reflexion über unternehmerische Herrschaftsverhältnisse trotzdem. Denn kein Unternehmen kann sich der Aufgabe entziehen, Entscheidungs- und Gestaltungsmacht und damit Herrschaft zu verteilen.

Unternehmensdiktatur in Amerika?

Eins_ Historische Wurzeln

Elisabeth Anderson sieht in der US Wirtschaft Unternehmensdiktatur
Elisabeth Anderson

Der Rahmen für Andersons These von der Unternehmensdiktatur ist eine kurze historische Analyse, wie es überhaupt zu den aktuellen Verhältnissen der US amerikanischen Wirtschaft und ihrer Unternehmen gekommen ist. Sie sieht die Anfänge im Englischen Bürgerkrieg von 1642-1649: “No wonder some of the early advocates of free markets in 17th-century England were called “Levellers.” These radicals, who emerged during the English civil war, wanted to abolish the monopolies held by the big merchants and aristocrats. They saw the prospects of greater equality that might come from opening up to ordinary workers opportunities for manufacture, trade, and farming one’s own land.” (Anderson 2017) Die Idee eines freien Marktes war für die Levellers also letztlich eine Demokratisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Adam Smith war dann im 18. Jahrhundert für Anderson der größte Anwalt der Sichtweise, dass der Austausch von Monopolen, Erstgeborenenrechte, Erblehen und unfreiwilliger Knechtschaft durch einen freien Markt Arbeiter befähigen würde, zum eigenen Nutzen und Vorteil zu arbeiten. Allerdings diagnostiziert sie bei Adams eine fundamentale Fehleinschätzung: Er glaubte, dass diese eben beschriebenen Vorteile und Anreize machtvoller wären als etwaige Größen- und Skalierungseffekte in der Wirtschaft (economies of scale). Aber genau das hat sich nicht bewahrheitet.

In den USA wurde diese Idee von Thomas Paine, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten, in erheblichem Maß unterstützt. Er ging laut Anderson davon aus, dass die Bürger:innen die meisten ihrer Probleme alleine lösen können ohne die Einmischung des Staates. Eine gute Regierung würde sich dadurch auszeichnen, für Frieden und Sicherheit zu sorgen unter möglichst geringer Steuerlast. Und so wurde Paine, wie Anderson feststellt, zum Helden radikaler Arbeitnehmer, die seine Hoffnung teilten, dass der freie Markt dafür sorgt, dass die Wirtschaft fast komplett aus kleinen Eigentümern bestehen wird, mit Individuen, die unabhängig sind und keinen Befehlen anderer folgen müssen. Wäre dem so, wäre der freie Markt tatsächlich zutiefst demokratisch, spätere Ideen und Konzepte von Wirtschaftsdemokratie, wie sie zum Beispiel der deutsch-israelische Sozialdemokrat und Gewerkschafter Fritz Naphtali entwarf (1928/1969) oder der britische Wirtschaftswissenschaftler G.D.H. Cole mit seinem Gildensozialismus (1919), wäre überflüssig gewesen und vermutlich erst gar nicht ersonnen worden.

Basierend auf dieser Vision von Smith und Paine kam Abraham Lincoln zu den damaligen zwei Säulen der Republikaner: Widerstand gegen die Ausweitung der Sklaverei und der Homestead Act, durch den es Personen über 21 Jahre erlaubt war, bis dahin unbesiedeltes Land in Besitz zu nehmen, um darauf zu wirtschaften (zumeist Landwirtschaft)[1]. Aber Lincoln, Paine und Smith hatten ihre Rechnung ohne die tatsächlich eintretenden Effekte der Industriellen Revolution gemacht, die bereits zu Lincolns Lebzeiten in vollen Gange war: Die neuen Technologien dieser Revolution erforderte massive Kapitalakkumulation und zerschmetterten so den gemeinsamen Traum der drei: “The Smith-Paine-Lincoln libertarian vision was rendered largely irrelevant by industrialization, which created a new model of wage labor, with large companies taking the place of large landowners.” (ebnd.) Das ist der historische Kern der aktuellen wirtschaftlichen und unternehmerischen Situation in den USA.

Zwei_ Unternehmerische Mechanismen

Anderson auf Vox.com über UnternehmensdiktaturDie bis hierhin sehr kurz geschilderte makroökonomische Entwicklung stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen zusätzlich innerbetriebliche Strukturen in den USA zu der These von Anderson geführt haben. In Ihrem Beitrag “How bosses are (literally) like dictators” auf vox.com beginnt Anderson die Erläuterung und Untermauerung ihrer These der Unternehmensdiktatur mit diversen Beispielen: “Amazon prohibits employees from exchanging casual remarks while on duty, calling this “time theft.”. Apple inspects the personal belongings of its retail workers, some of whom lose up to a half-hour of unpaid time every day as they wait in line to be searched. Tyson prevents its poultry workers from using the bathroom. Some have been forced to urinate on themselves while their supervisors mock them. About half of US employees have been subject to suspicionless drug screening by their employers. Millions are pressured by their employers to support particular political causes or candidates” (ebnd.) Derartige Arbeitsverhältnisse sind wohl fraglos ziemlich nah dran an früheren Umständen von Knecht- und Leibeigenschaft. Wer vor diesem Hintergrund Andersons These als linksradikale Kritik für obsolet erklären will, dürfte Schwierigkeiten bekommen [2]. All diese Ereignisse sind sehr weit entfernt von einer menschenwürdigen Wirtschaft – die keineswegs demokratisch verfasst sein muss, um mit Mitarbeiter:innen einfach nur respektvoll umzugehen.

Bezüglich der Analogie von Staat und Unternehmen, was nicht wenige als Kategorienfehler von vornherein zur präventiven Abwendung lästiger Auseinandersetzungen ablehnen, beginnt Anderson beim Begriff der Regierung: “Yet the state is only one kind of government. Every organization needs some way to govern itself — to designate who has authority to make decisions concerning its affairs, what their powers are, and what consequences they may mete out to those beneath them in the organizational chart who fail to do their part in carrying out the organization’s decisions.” (Anderson 2017). Unstrittig dürfte sein, dass in jedem Unternehmen verschiedene Formen von Entscheidungen getroffen werden. Wir unternehmensdemokraten unterscheiden dabei aktuell vier Reichweiten: operativ, taktisch, strategisch und normativ (vgl. Zeuch 2022). In den meisten Unternehmen werden die strategischen und normativen Entscheidungen durch die Geschäftsführung oder den Vorstand getroffen. Alleine schon deshalb scheint mir die Analogie keineswegs völlig absurd zu sein, wenngleich klar ist, dass es auch deutliche strukturelle Unterschiede gibt. Die unternehmerische Regierung hat beispielsweise nur manchmal aber keineswegs immer eine Opposition in Form eines Betriebsrats, womit ihre Machtfülle – ganz nebenbei bemerkt – sogleich größer ist, als die einer demokratischen Regierung.

Es gibt aber noch entscheidendere Unterschiede. Staatliche Regierungen sind  erstens mehr oder minder öffentlich und müssen sich den Bürger:innen gegenüber rechtfertigen. Nicht so die Geschäftsführung: “Like Louis XIV’s government, the typical American workplace is kept private from those it governs. Managers often conceal decisions of vital interest to their workers. Often, they don’t even give advance notice of firm closures and layoffs.[3]” (ebnd.) Es ist bis heute keineswegs selbstverständlich, dass Mitarbeiter:innen auch nur über Entscheidungen des Vorstands informiert werden, mal abgesehen von der niedrigst möglichen Partizipation des konsultativen Einzel- oder Gruppenentscheids. Kurz: Die unternehmerische Regierung schuldet ihren Unternehmensbürger:innen (Sattelberger 2013) keine Rechenschaft [4]. Und so kommt Anderson zu diesem Schluss:

“Private government is arbitrary, unaccountable government.” Elisabeth Anderson

Zweitens kommt etwas Entscheidendes hinzu: Demokratische Regierung werden (ab)gewählt. Nach Schumpeters “anderen Theorie der Demokratie” treten Politiker:innen in eine marktähnliche Wettbewerbssituation, in der sie um die Gunst und damit Stimmen der Wähler:innen konkurrieren (Schumpeter 1947/2005: 428). Diesen fundamentalen demokratischen Mechanismus vermag ich in Unternehmen nicht zu erkennen. Stattdessen bestimmen fast alle aktuellen unternehmerischen Regierungen, wer nach ihr die maßgeblichen Entscheidungen treffen wird [5]. Bei inhabergeführten Unternehmen ist die Erbfolge ein völlig normaler Mechanismus, sofern die Töchter oder Söhne dieses Erbe antreten wollen [6]. Hier wird eine weitere Nähe zu Diktaturen sichtbar. Kein Diktator (meistens Männer, wie aktuell Putin) muss sich diesem Konkurrenzkampf wirklich stellen. Falls überhaupt, werden Wahlen höchstens inszeniert und simuliert, deren abschließender Ausgang vorab längst feststeht. Zur Not werden die Ergebnisse manipuliert und der angeblich demokratisch gewählte Führer kann sich dergestalt pseudodemokratisch legitimieren. Aber nicht einmal solche Simulationen finden in Unternehmen statt. ACHTUNG: Womit ich keineswegs für die Wahl von Führungskräften bis hin zur Geschäftsführung plädiere, im Gegenteil, Führungskräftewahlen sehe ich kritisch.

Zusammengefasst haben wir in den USA eine makro- und mikroökonomische Situation, die die These von der Unternehmensdiktatur untermauert.

Und in Deutschland?

Prof. Dr. Werner Nienhüser, ©Stefan Pramme

Keine Frage: Bei uns gibt es keine Unternehmensdiktatur! Anderson selbst verweist schließlich positiv auf unser Mitbestimmungsrecht und dass die USA bitte von uns lernen sollen. Ob das wirklich so ist, hat der frisch emeritierte Professor Dr. Werner Nienhüser untersucht, der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Arbeit, Personal und Organisation an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Essen. Im Abschnitt 3.2 seines Artikels (2022) wendet er sich dieser Frage zu, indem er die vier, durch ihn zusammengefassten Kriterien von Anderson für eine Unternehmensdiktatur in deutschen Verhältnissen untersucht:

Alle Produktionsmittel sind Eigentum der Regierung. Bei uns in Deutschland ist es generell nicht viel anders als in den USA, in den meisten Fällen sind die Produktionsmittel der Unternehmen nicht in der Hand der Belegschaft. Dies ist vor allem bei Genossenschaften der Fall, allerdings gab es laut Statistischem Bundesamt in 2020 lediglich 5305 Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, also gerade mal 0,18% aller wirtschaftlich tätigen Einzelpersonen und Unternehmensarten. Innerhalb anderer Gesellschaftsformen als Genossenschaften können die Produktionsmittel durch Beteiligungen über die Regierung/Geschäftsführung hinaus verteilt werden. Allerdings beteiligen  “… nur 1,3 Prozent der Betriebe … ihre Mitarbeiter … am Kapital” (ebnd.), was laut Nienhüser 2,7% aller Beschäftigten entspricht. Ergänzt wird diese kleine Gruppe noch um rund eine Million Belegschaftsaktionäre in 2020, was etwa 2% von rund 48 Millionen Erwerbstätigen in 2020 im Jahresmittel entspricht. Nienhüser kommt somit zu dem nachvollziehbaren Schluss: “Ein nennenswerter Einfluss über Besitzanteile an Unternehmen ist für die Mehrheit der Bevölkerung damit in weiter Ferne.”

Hierarchische Strukturen werden von der Regierung ohne Beteiligung der Regierten erstellt: Wie oben bereits geschrieben werden Geschäftsführungen und Vorstände als unternehmerische Regierung und damit oberste hierarchische Stufe nur in den wenigsten Fällen nicht durch die laufenden Regierungen bestimmt. Und selbst in Aktiengesellschaften ist die Bestellung durch den Aufsichtsrat bei Weitem keine Echte Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer:innen: “Bis auf die Ausnahme des Montanbereiches gibt es keine echte paritätische Aufsichtsrats-Mitbestimmung. Die Montanmitbestimmung erfasst nur noch ca. 30 Unternehmen mit 70 Tsd. Beschäftigten.” (ebnd.), also in 2020 satte 0,0009%. Abschließend kommen alle Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten hinzu, bei denen die Mitbestimmungsregelungen des Drittelbeteiligungsgesetzes gelten. Nienhüser wendet zu Recht ein: “Dabei ist … nicht nur in Betracht zu ziehen, für wie viele Unternehmen und Beschäftigte die Gesetze gelten, sondern auch, inwieweit diese angewandt werden. So ignoriert rund die Hälfte der Unternehmen, die eine Drittelbeteilung der Arbeitnehmer implementiert haben müssten, die Gesetzesvorschrift schlichtweg (Sick, 2015); immer mehr Unternehmen entziehen sich auch durch Wahl einer europäischen Rechtsform der deutschen Mitbestimmung.” (ebnd.) Da die “Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates … nicht für die Besetzung von Leitungsgremien und andere grundsätzliche unternehmerische Entscheidungen [gelten]” (ebnd.) und sie keine einklagbare Beteiligung bei der Erstellung der hierarchischen Struktur garantieren, klammere ich sie aus. Somit zieht Nienhüser auch hier ein ernüchterndes Fazit: “Gemessen an Kriterium 2, gelten für die Gesamtheit auch der deutschen Unternehmen diktatorische Verhältnisse.” (a.a.O.: 292)

Das Recht zu belohnen und zu bestrafen. Wie Unternehmen ihre Mitarbeitenden belohnen können, ist klar. Die Optionen von Bestrafungen sind dabei nicht nur die Versagung von Belohnungen (Beförderung, Gehaltserhöhung, Boni, Incentives, Weiterbildungsmaßnahmen…), sondern natürlich auch Abmahnungen, Versetzungen und Kündigungen. Für Letztere gilt: Eine Kündigung “…  ist in der Regel auch bei Gegenwehr des Exilierten und des Betriebsrates durchsetzbar. Zudem kann man den Beschäftigten die Arbeitsbedingungen so verschlechtern, dass sie selbst kündigen oder Aufhebungsverträgen zustimmen.” (ebnd.) Zum Ende dieses dritten Kriteriums verweist Nienhüser noch auf Artikel 19 der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern: “Der Antrag zur Änderung der Richtlinie enthält eine lange und m. E. erhellende Liste von Maßnahmen, die Unternehmen verboten sind zu ergreifen. Man kann annehmen, dass diese Liste deswegen entstanden ist, weil man solche Praktiken von Unternehmen beobachtet.” (a.a.O.: 292f). Eine Resume zu diesem Kriterium hat Nienhüser nicht gezogen. Meines Erachtens greift es ebenfalls, auch wenn es fraglos schwächer und weniger drakonisch ist, als in staatlichen Diktaturen, in denen Haft- und Todesstrafen ebenso Gang und Gebe sind, wie Attentate. Davon sind Unternehmen freilich weit weg.

“Die Regierung verfügt über einen Propagandaapparat, Gegenpropaganda kann negativ sanktioniert werden.” (a.a.O.: 293). Hier gilt es Propaganda im Innen- und Außenverhältnis zu unterscheiden, so wie auch bei Staaten üblich. Wir erleben aktuell diese beiden Propagandabemühungen Russlands. Im Innenverhältnis scheinen sie extrem erfolgreich zu sein – eben auch deshalb, weil die Gegenpropaganda mittlerweile durch die drastischen Strafmaße auf ein leicht zu kontrollierendes Minimum reduziert werden konnte. Im Zusammenhang mit Unternehmen schreibt Nienhüser: “Standardwerke wie das „Handbuch der Public Relations“ … zeigen deutlich, dass in erster Linie um Propaganda geht, die das Bild des Unternehmens in der Wahrnehmung der Beschäftigten und der Öffentlichkeit beeinflussen soll.” (ebnd.) Zu Recht verweist Nienhüser darauf, dass Betriebsräte zwar grundsätzlich Öffentlichkeitsarbeit betreiben können, aber erstens nicht über dieselben Mittel verfügen, wie die Unternehmen und zur Zeit nur rund ein Viertel von ihnen soziale Medien systematisch nutzen. Allerdings sind dieser “… Öffentlichkeitsarbeit Grenzen gesetzt, die letztlich durch die Interessen der Kapitalseite (nicht zuletzt unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis) bestimmt werden.” (ebnd.)

Abschließend kommt Nienhüser zu folgendem Schluss: “Wenn wir die Kriterien von Anderson heranziehen, kommt man zu dem Ergebnis, dass Unternehmen in Deutschland den US-Unternehmen hinsichtlich der Merkmalsausprägungen in der Tendenz ähneln, auch wenn der Diktaturcharakter in Deutschland längst nicht so ausgeprägt ist.” (ebnd.) Alles in allem scheint die These von Anderson zwar in erster Linie vor allem auf amerikanische Unternehmen anwendbar, aber selbst trotz der in Deutschland traditionell starken und rechtlich verankerten Mitbestimmung ist ihre These keineswegs einfach vom Tisch zu wischen.

To be discussed…

Soweit in gebotener Kürze zu Andersons These über Unternehmensdiktatur. Wer Lust hat, das Thema gemeinsam mit Prof. Dr. Nienhüser und uns unternehmensdemokraten weiter zu erkunden, zu reflektieren und vor allem nach Lösungen Ausschau zu halten, ist eingeladen, am 05. Mai 2022 bei der ersten Folge unserer neuen Reihe UD Talks dabei zu sein. Von 18:00 – 19:30 werden wir via Zoom ohne Reiseaufwand und kostenfrei diskutieren, gemeinsam nach- und weiterdenken, konstruktiv streiten, zuhören, lernen und so unsere Sicht auf Organisationen und die Arbeit darin gegenseitig bereichern.

Für die Teilnahme reicht eine formlose Mail an uns, über dieses Link, der Betreff ist automatisch eingefügt. Wir freuen uns auf Euch und eine respektvoll konträre Auseinandersetzung.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Fußnoten

[1] Die weitere Entwicklung der Republikaner bis in die heutige Zeit ist, nebenbei bemerkt, eine interessant Verkehrung ins Gegenteil, zumal Lincoln als erster republikanischer Präsident davon ausging, dass freie Arbeit die Freiheit von Lohnarbeit meint. Heute dürfte es schwierig werden, auch nur einen einzigen Republikaner zu finden, der diese Auffassung teilt. Oder auch nur als Überlegung in Betracht zieht. Vielmehr würde wohl die übliche paranoide Keule des Sozialismusvorwurfs geschwungen werden.

[2] Die Fälle von Amazon und Apple sind auch bei uns schon länger bekannt und können durchaus als Formen von Unternehmensdiktatur verstanden werden. Die Aussage über den Fleischproduzenten Tyson ist durch den Oxfam Bericht “No Relief” von 2016 gedeckt. Schlimmer noch als der etwaige Druck, dem Management genehme Parteien zu unterstützen, ist die 2010 getroffene Grundsatzentscheidung des Supreme Court im Fall Citizens United vs. Federal Election Commission: Die Finanzierung von TV-Sendungen zur Beeinflussung von Wahlkämpfen durch alle möglichen Organisationen (Unternehmen, NGO und NPO) wurde als politische Rede eingestuft und damit diesem Recht  natürlicher Personen gleichgestellt. Dass indes Unternehmen wie Amazon, Apple oder WalMart alleine aufgrund der Kapitalausstattung nicht dasselbe sind wie Max Mustermann, dürfte hoffentlich jedem klar sein. Mit Demokratie hat ein solches letztinstanzliches Urteil nicht viel zu tun. Es ist vielmehr die systematische Aushöhlung derselben zugunsten der Eigentümer dieser Firmen. One man, one vote stimmt zwar noch formal, aber die freie Rede ist damit höchstrichterlich einer krassen Assymmetrie zum Opfer gefallen (Vgl.: Brown 2015: Kapitel 5, Gesetzgebung und gesetzgeberische Vernunft. Alleine für dieses Kapitel ist Browns Buch überaus lohnenswert).

[3] Das jüngste Beispiel zum Beleg dieser Aussage, dass Manager ihre Belegschaften nicht einmal über Firmenschließungen oder Entlassungen informieren, bietet der brutale, emotional autistisch-dissoziierte Kahlschlag von Elon Musk nach der Übernahme von Twitter. Immerhin wurden rund die Hälfte der Mitarbeiter:innen entlassen, oftmals eben ohne jeglichen Information. Sie erfuhren dies meist nur über Emails, einige sogar erst, als sie sich nicht mehr in ihre Arbeitsaccounts einloggen konnten. Siehe dazu diesen Beitrag im Spiegel.

[4] Zur Erinnerung: Noch befinden wir uns in Amerika.

[5] In Deutschland gab es 2019 7622 Aktiengesellschaften, bei denen die “Regierung” nicht selber bestimmen kann, wer ihr nachfolgt. Das entspricht einem Anteil von 0,23% an allen 3,288 Millionen Unternehmen in 2019 (Statista).

[6] Einer der bis heute visionärsten Alternativen herkömmlicher Unternehmensführung jenseits jeglicher möglicher Unternehmensdiktatur entstand durch die Nachfolge von Klaus Hoppmann in der Geschäftsführung des von seinem Vater aufgebauten Untenehmens, der heutigen Martin Hoppmann GmbH. Klaus Hoppmann stellte sich nämlich als möglicher Erbe und neuer Geschäftsführer zwei ungewöhnliche Fragen, die zur heutigen Verfassung dieses sozialen Stiftungsunternehmens führten: Darf er das Unternehmen überhaupt erben (als ethische nicht rechtliche Frage) und zweitens ob er es führen kann. Die Geschichte dieser Nachfolge sei allen Unternehmensinhaber:innen ans Herz gelegt (vgl. Zeuch 2015: 89-105).

 

Literatur

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©geralt, pixabay freie Nutzung
  • Elisabeth Anderson: ©John D. and Catherine T. MacArthur Foundation, CC-BY 4.0
  • vox Webiste: ©vox, Webfoto
  • Werner Nienhüser: ©Stefan Pramme, mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Werner Nienhüser

 

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