PISA Schock: Zur Verzerrung der Bildungsdebatte

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Am 05. Dezember 2023 veröffentlichte die OECD die Ergebnisse der PISA-Erhebung 2022. Seit dem haben fast alle großen Medien über die katastrophalen Ergebnisse in den untersuchten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz berichtet. Es ist nach PISA 2001 nun das zweite Mal, dass eine Schock- und Katastrophenwelle das Land in helle Aufregung versetzt. Dabei kann die Bedeutung dieser “Katastrophe” durchaus hinterfragt werden: Wie verzerrt ist eigentlich unsere Bildungsdebatte? Mit welchen Folgen?

Die Titel der Berichterstattungen über die diesjährige PISA Publikation kommen teils mit dramatischer Wucht: “Im freien Fall” titelte die taz und beschwor so ein grausames Bild, das man sich nicht vorstellen möchte: Der erheblicher Teil unserer deutschen Schüler:innen stürzt ab und wird früher oder später auf dem harten Boden der beruflichen Realität aufschlagen: “Die scheitern am Dreisatz” (Arp & Olbrisch 2023) ist dabei wenigstens noch spezifisch auf den äußerst verengten Untersuchungshorizont von Naturwissenschaften, Mathematik und Lesekompetenz zugeschnitten. Andernorts wird daraus eine generalisierte Problematik: “Schlechtes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem” berichtet ausgerechnet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW (Goddar 2023). Bei all dem ist es hilfreich, erst einmal einen Schritt zurückzutreten und zu schauen, was genau eigentlich PISA ist, wie dieses “Program for International Student Assessment” mit welcher Zielsetzung entstanden ist.

PISA: Ein Instrument der OECD

PISA – ein Instrument der OECD
Hauptsitz der OECD, Schloss La Muette, Paris

PISA stammt aus der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Alleine das sollte zu denken geben. Denn schon hier wird das wesentliche Problem deutlich: Bildung wurde im Zusammenhang mit der Entwicklung des Konzepts Humankapital aus einer vorrangig wirtschaftlichen Sicht interpretiert und utilisiert: “Seit Ende der 1990er Jahre hat sich die Art und Weise, wie die Schulbildung und sogar die Bildung insgesamt bewertet wird, grundlegend geändert. Aus dieser neuen Perspektive scheint das Bildungssystem als ein Teilsystem des Wirtschaftssystems interpretiert zu werden und diesem somit untergeordnet zu sein. Entscheidungen über Bildungsfragen scheinen entscheidend für den individuellen Wohlstand und Entscheidungen über das Bildungssystem entscheidend für das nationale Wohlergehen geworden zu sein. Im Einklang mit dieser Sichtweise, die ihre Wurzeln in den bildungsökonomischen Theorien und den Humankapitaltheorien der 1960er Jahre hat, wurden unter der Schirmherrschaft der OECD internationale Studien konzipiert, in der Hoffnung, mehr und bessere Daten zu Kontrollzwecken zu erhalten.” (Bank 2012)

Bereits 1966 okupierte die OECD Bildung als genau dieses Teilsystem der Wirtschaft: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört.

…dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.” OECD 1966

So bereitete die OECD den Weg für die Verbindung von Bildung, individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand, der einige Jahre zuvor in einzelnen wissenschaftlichen Arbeiten entwickelt wurde (Denison 1962, Schultz 1960). Der Ausgangspunkt für Denison und Schultz bestand darin, dass das Wachstum des Volkseinkommens (Y) durch bestimmte Faktoren bedingt wird. Die neoklassische Wirtschaftstheorie erklärt das Wachstum des Volkseinkommens durch die Kombination der drei Produktionsfaktoren Kapital (K), Arbeit (L) und Boden. Da es nicht möglich war, durch diese drei Faktoren das Wachstum vollständig zu erklären, wurden die Ausgaben für Bildung (Ed) als Maß für das Bildungsniveau in einer Volkswirtschaft eingeführt. Damit konnte die nationale Produktionsfunktion neu definiert werden: Y = Y(K, L, Ed). (Bank 2012).

PISA: Im Widerspruch zum Bildungsauftrag

Diese radikale Reduktion des Verständnisses von Bildung mit PISA als Schulleistungsmessung steht in einem deutlichen Widerspruch zu einem viel umfassenderen Bildungsverständnis und Auftrag: „Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.“ (Art 7, Verfassung von NRW)

Ähnlich in Baden-Württemberg: “Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler in Verantwortung vor Gott, im Geiste christlicher Nächstenliebe, zur Menschlichkeit und Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zur Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, zu Leistungswillen und Eigenverantwortung sowie zu sozialer Bewährung zu erziehen und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Begabung zu fördern, zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen…” (§1 Abs 2 SchulG, Baden-Württemberg) Besonders erwähnenswert scheint mir noch folgender Auftrag:

“Schule [ist] insbesondere gehalten, die Schüler auf die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten vorzubereiten und die dazu notwendige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln.” (§1 Abs 2 SchulG, BW., kursiv AZ)

Ähnlich aber auf die rechtsradikale Vergangenheit Deutschlands verweisend, klingt es im Berliner Schulgesetz: “Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.” (§1 SchulG Berlin) Natürlich klingt es in Thüringen ähnlich, wo nächstes Jahr die AfD, die dort als rechtsradikal eingestuft wurde, voraussichtlich mit Abstand die besten Wahlergebnisse erreichen wird: “Wesentliche Ziele der Schule sind … die Befähigung zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zur Mitgestaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung…” (§2 Abs 1 Thüringer SchulG).

Wenig verwunderlich könnten ich noch eine Weile so weitermachen. Zum krönenden Abschluss noch ein Auszug aus dem Sächsischen Schulgesetz. Dem Bundesland wo die AfD ebenfalls jüngst als rechtsradikal eingestuft wurde aber ähnlich wie in Thüringen große politische Erfolge feiert und unsere Demokratie bedroht: Schüler:innen sollen insbesondere lernen, “allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ihren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten…” (§ 1, Abs 5, Satz 4 SchulG Sachsen). Da kommt mir folgende Frage in den Sinn:

Wieso debattieren wir nicht, ob unsere Schulen ihren gesetzlichen Bildungsauftrag zur Gestaltung einer friedlichen und solidarischen Demokratie erreichen?

Natürlich kann ich mir die Frage selber beantworten: Weil es die OECD mit der Einführung von PISA im Jahr 2000 geschafft hat, die Reduktion von Bildung als Berufsvorbereitung und damit als wirtschaftsförderlichen Faktor durchzusetzen. Es scheint, als hätte sie einmal mehr einen hegemonialen Coup gelandet, so wie mit der Vorherrschaft des Wirtschaftswachstum als beinahe global anzutreffende Staatsdoktrin [1]. Durch den Einsatz von PISA in den OECD Ländern und den Leistungsvergleich zwischen ihnen wurde der Fokus im dreijährigen Turnus, in dem die Erhebungen publiziert werden, immer wieder auf den bekannten irrwitzig schmalen Fokus verschoben.

Zum Abschluss noch ein wichtiger Aspekt: Bezüglich der demokratischen Bildung geht es mir – natürlich – nicht um Politikunterricht und formale politische Bildung im Sinne einer Vermittlung deklarativen Wissens, also Wissen-über. Es geht mir um dringend nötige Haltungsfragen: Wie stehe ich zur Demokratie? Nehme ich sie überhaupt wahr? Welchen Preis bin ich bereit dafür zu zahlen etc. Es geht mir um demokratische Kompetenzen, also Handlungswissen: Kann ich einen Perspektivwechsel vollziehen, mich in andere hineinspüren und -versetzen? Kann ich meine Stimme erheben und mich artikulieren? Kann ich mit Konflikten umgehen? Bin ich in der Lage, Kompromisse zu finden? Und schließlich geht es mir um demokratische Selbstwirksamkeitserwartung: Glaube ich, dass meine Ansichten wert sind, gehört zu werden? Glaube ich, dass andere sich damit auseinandersetzen werden? Glaube ich, gegen Widerstände demokratisch wirksam sein zu können? Das alles lernen Schüler:innen nicht, indem ihnen intellektuell beigebracht wird, was Gewaltenteilung bedeutet, was der Bundesrat ist, was Föderalismus. Es geht mir darum, Demokratie praktisch zu erlernen und einzuüben (vgl. Zeuch 2015: 43-54).

Resümee

Ich habe mich auf die Problematik des grundlegenden Verständnisses von Bildung beschränkt. Es ließe sich aber auch noch einiges zur Methodik der PISA Erhebungen anmerken, so dass die ach so schockierenden Ergebnisse noch fragwürdiger werden. Dazu reicht schon ein Blick in Wikipedia, wo sich ein eigener Artikel zur “Kritik an den PISA-Studien” findet. Es gibt sowohl Fragen zur Validität der Instrumente als auch der angewendeten Statistik sowie der Interpretation der Ergebnisse.

“PISA selbst [hat] keine solche Qualitätskontrolle [wie “echte” wissenschaftliche Publikationen, AZ] hinter sich: PISA stellt sich als interessensgeleitete bzw. sogar -gebundene Auftragsforschung dar, von den einzelnen Regierungen der teilnehmenden Länder finanziert und von privatwirtschaftlichen Instituten (insbesondere ACER Australien) durchgeführt, und die Ergebnisse werden im Eigenverlag der OECD ohne vorherige externe Begutachtung veröffentlicht.” (Wikipedia)

Ich für meinen Teil bin mit den Grundrechenarten und Prozentrechnen und ohne besondere naturwissenschaftliche Kenntnisse ziemlich gut durchs Leben gekommen. Mein Diplom hatte ich mit 1,3 abgeschlossen, was mir als ehemaliger FH Absolvent die Möglichkeit zu meiner erfolgreich abgeschlossenen Promotion eröffnete. Damit gehöre ich bei einer Promotionsquote von unter 2% wohl zur Bildungselite in Deutschland. Als Mathenulpe.

Wir haben viel dringlichere und wichtigere Probleme mit der Schulbildung als die PISA Ergebnisse: Die Entwicklung von friedlichen und solidarischen Bürger:innen.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Fußnoten

[1] Der Wirtschaftswissenschaftler Matthias Schmelzer hat die Entstehung der Wachstumshegemonie durch die OECD in seiner herausragenden Dissertation beeindruckend klar und auf unzähligen OECD Dokumenten basierende herausgearbeitet. Die Entwicklung der Wachstums-Hegemonie kann unter vier Gesichtspunkten betrachtet werden: (1) Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßeinheit und Maßnahme zur politischen Steuerung von Wachstum, (2) Wachstum als Allheilmittel für alle möglichen, unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, (3) Wachstum als universeller Maßstab und (4) Wachstum als unendlich.

 

Literatur

  • Arp, S.; Olbrisch, M. (2023): Die scheitern am Dreisatz. Spiegel+ Online
  • Bank, V. (2012): On OECD Policies and the Pitfalls in Economy-Driven Education: The Case of Germany. Journal of Curriculum Studies 44(2): 193–210
  • Denison, E. (1962): The Sources of Economic Growth in the Unites States and the Alternatives Before Us. Supplementary Paper No. 13. Committee for Economic Development.
  • Goddar, J. (2023): Schlechtes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem. Website GEW
  • OECD (1966): Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. Eigenverlag
  • Schmelzer, M. (2016): The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm. Cambridge University Press
  • Schultz, T. (1960): Capital formation by education. The Journal of Political Economy, 68(6): 571–583
  • Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Xavi Cabrera, unsplash lizenzfrei
  • Schloss La Muette: ©Patrick Janicek, CC-BY 2.0

 

Comments (1)

Bravo Andreas, das spricht mir aus dem Herzen. Vielen Dank! Gruß Peter

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