Am 10. Januar 2024 veröffentlichte das Online-Magazin CORRECTIV den Beitrag “Geheimplan gegen Deutschland” über die DeportationsAffäre der AfD und diverser Sympathisanten aus der Neonazi-Szene, anderen Parteien und Unternehmern. Damit löste das Magazin eine erhebliche gesellschaftliche und politische Empörungswelle aus, die vermutlich noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, zumal CORRECTIV weitere Enthüllung angekündigt hat. In den Tagen darauf berichteten alle großen Medien wie der Spiegel, Tagesthemen, Deutschlandfunk, Handelsblatt und andere. Schnell formierte sich bürgerlicher Protest in Form von Demonstrationen. Allerdings gibt es immer noch viele Menschen und Unternehmen, die weiterhin schweigen. Und damit als Trittbrettfahrer unsere Demokratie unterhöhlen.
In dem Artikel “Geheimplan gegen Deutschland” arbeiteten die Journalist:innen heraus, wie der österreichische Neonazi Martin Sellner das Konzept der “Remigration” erklärt, ein zynischer Euphemismus, geht es doch um millionenfache (wortwörtlich) Deportation. Nicht umsonst wurde der Begriff zum diesjährigen Unwort des Jahres, wessenthalben ich hier von der “DeportationsAffäre” spreche, um durch diese sprachliche Verschleierung keiner Diskursverschiebung Vorschub zu leisten: “Es gebe drei Zielgruppen der Migration, die Deutschland verlassen sollten. Oder, wie er sagt, „um die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“. Er zählt auf, wen er meint: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien aus seiner Sicht das größte „Problem“. Anders gesagt: Sellner spaltet das Volk auf in diejenigen, die unbehelligt in Deutschland leben sollen und diejenigen, für die dieses Grundrecht nicht gelten soll.” (Bensmann et al. 2024)
Die DeportationsAffäre
Diese schwülstigen, menschenverachtenden Deportationsphantasien sind dabei keineswegs nur in diesem Geheimtreffen hinter geschlossenen Türen besprochen worden. Im aktuellen Programm zur Europawahl 2024 findet sich die Idee der Deportation hochoffiziell auf Seite 17 unter der Zwischenüberschrift “Remigration statt Talentabwerbung”. Die Wiederauflage alter Nazi-Ideen in Form des Madagaskar-Plans, der möglicherweise die Vorstufe zum Holocaust mit der millionenfachen Ermordung von Juden war, ist im öffentlichen Diskurs noch deutlicher. René Springer, Mitglied des Bundestags für die AfD seit 2017 und Mitglied des Ausschusses Arbeit und Soziales (!), schwadronierte bei X über die millionenfache Rückführung von Ausländern – und machte in seinem Tweet sogar klar, dass dies kein “Geheimplan” sei sondern vielmehr ein “Versprechen”. Was CORRECTIV also mit seinem herausragenden investigativen Bericht öffentlich machte, ist nur der geheim gehaltene Teil der längst öffentlichen Kommunikation einer Partei, ihrer Mitglieder, Sympathisanten und Sponsoren. Eine Partei, die in drei Bundesländern als gesichert rechtsextrem bewertet wurde (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen).
In beeindruckendem Tempo reagierte der Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Thomas Beschorner von der Universität St. Gallen auf diese “völkischen Phantasien”. In seinem unbedingt lesenswerten Beitrag “Eine brandgefährliche Liaison” in der Zeit argumentiert er stringent für die Corporate Political Responsibility von Unternehmen und stellt gleichzeitig eine äußerst fragwürdige Schweigsamkeit vieler Unternehmen fest, die bis zu seinem Artikel nicht auf die demokratiefeindlichen Phantasien und Vorschläge von AfD & Co. reagiert haben: “Erstaunlich passiv aber verhält sich in dieser Debatte die breitere Kulisse an deutschen Unternehmen und großen Konzernen, zumal diese politischen Entwicklungen ihnen aus den unterschiedlichen Gründen nicht recht sein können.” Beschorner nennt vier mögliche Gründe für das Schweigen:
- Die Tragweite der DeportationsAffäre wurde nicht erkannt und/oder als nicht relevant fürs Unternehmen eingestuft.
- Ökonomie und Politik seien strikt getrennte Sphären.
- Angst durch die klare Positionierung Beschäftigte, Vertragspartner oder gesellschaftliche Gruppen zu verprellen. Ich füge hinzu: Und vor Umsatzeinbußen.
- Die AfD Programmatik passt mit ihren “wirtschaftsliberalen bis libertären” Ansätzen den Verantwortlichen gut in den Kram.
Dabei müssten Unternehmen und Wirtschaftsverbände alleine aus Eigennutz aufstehen und sich eindeutig gegen die neonazistischen Deportationspläne positionieren: “Unternehmen und Wirtschaftsverbände scheinen sich bei ihren unterschiedlichen Strategien des Wegduckens eines wesentlichen Umstandes nicht bewusst zu sein, nämlich: Eine freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die wichtigste Säule einer sozialen Marktwirtschaft. Ist diese Ordnung in Gefahr, so ist es nicht nur im Interesse von Unternehmen und Verbänden, sondern auch ihre gesellschaftliche Verantwortung, höchste Anstrengungen zur Abwehr von Feinden einer offenen Gesellschaft zu unternehmen.” (Beschorner 2024) Anders ausgedrückt: Unternehmen sind abhängig von den Voraussetzungen eines demokratischen Rechtsstaats, wie der Rechtssicherheit, einer friedlich-stabilen Gesellschaft und dergleichen mehr, die sie selber nicht schaffen können.
Zur angeblichen Notwendigkeit einer strikten Trennung von Ökonomie und Politik sei deshalb kurz angemerkt: Diese Forderung ist in vielerlei Hinsicht haltlos, alleine schon durch die nötigen staatlich erzeugten Vorbedingungen zur Funktionsfähigkeit der Wirtschaft. Darüber hinaus gibt es aber immer noch eine erstaunliche begriffliche Verwechslung: Politik wird von so manchen immer noch mit Parteipolitik gleichgesetzt. In diesem Sinne haben sich Unternehmen natürlich aus den parteipolitischen Präferenzen ihrer Belegschaft rauszuhalten. Es geht mir hier also nicht darum, dass sich Unternehmen für eine bestimmte Partei stark machen sollen. Auf diese Verwechslung ging vor kurzem auch Melissa Pirouzkar-Moser in einem trefflichen und pointierten LinkedIn-Beitrag ein.
Das Trittbrettfahrerproblem
Nun schweigen aber die meisten Unternehmen immer noch. Sogar fast eine Woche nach der Publikation des Beitrags von Thomas Beschorner. Ausnahmslos alle Unternehmen profitieren weiterhin von eben jenen freiheitlich-demokratischen Voraussetzungen, ohne sie öffentlichkeitswirksam zu verteidigen und werden so zu Trittbrettfahrern der Demokratie. Dieses Problem geht zurück auf den überaus einflussreichen wissenschaftlichen Artikel “Die Tragik der Allmende” (“The Tragedy of the Commons”) des US-amerikanischen Mikrobiologen und Ökologen Garret Hardin von 1968. Hardins Thema war dabei weniger die Allmende im Allgemeinen. Es ging ihm in der Tradition von Thomas Malthus vielmehr um die seines Erachtens bedrohliche Frage einer Überbevölkerung, die wir ab einer gewissen Größe nicht mehr angemessen versorgen könnten. Laut Hardin kommen wir nicht umhin, dass Gemeingüter wie unsere Demokratie zwangsläufig durch individuelle Vorteilnahme ausgebeutet werden: “Als rationales Wesen versucht jeder Hirte, seinen Gewinn zu maximieren. Explizit oder implizit, mehr oder weniger bewusst, fragt er sich: “Welchen Nutzen habe ich, wenn ich meiner Herde ein weiteres Tier hinzufüge?”” (Hardin 1968: 1244, Übersetzung AZ). Hier wirkt einmal mehr das Konstrukt des Homo oeconomicus mit einem seiner wesentlichen Attribute der Eigennutzenmaximierung. Dabei ist es mehr als gewagt, diese Annahme über reichlich verschiedene Kulturen über Jahrhunderte hinweg als allgemeingültig vorauszusetzen. Aber das sei hier nur am Rande erwähnt.
Gute zwei Dekaden später widerlegte die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom die angeblich zwangsläufige Tragik der Allmende mit Ihrem Werk “Governing the Commons” (Die Verfassung der Allmende, 1990). Im Gegensatz zu Hardin untersuchte sie mit einem intitutionenökonomischen Ansatz empirisch die Bedingungen des Gelingens von Allmenden. Dafür erhielt sie 2009 als erste Frau den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. Wir wissen also heute recht genau, unter welchen Bedingungen Allmenden über Jahrhunderte hinweg erfolgreich gemeinschaftlich bewirtschaftet werden können, ohne dass sie durch egoistische Mitglieder der Gemeinschaft übernutzt werden (was Hardin also sehr wohl hätte in Rechnung stellen können). Nach meiner Einschätzung haben wir jedoch im Kontext der DeportationsAffäre das Problem, dass uns das von Ostrom herausgearbeitete Regelset nicht zur Verfügung steht und deshalb die verantwortlichen Letztentscheider:innen von Unternehmen (Eigentümer:innen, Geschäftsführungen/Vorstände, mithin ganz konkrete Personen) faktisch das Gemeingut unserer Demokratie für sich (aus)nutzen, ohne für deren Aufrechterhaltung ihre Stimme zu erheben. Dabei spielen auch Faktoren wie die jeweilige Gesellschaftsform eine Rolle: Aktiengesellschaften haben ihren Anteilseignern gegenüber die Aufgabe, für eine maximale Rendite zu sorgen. Bei anderen Gesellschaftsformen wie einer GmbH kommt dies vorwiegend dann zum Tragen, wenn natürliche oder Rechtspersonen in diese Gesellschaften investiert haben, um mehr oder weniger schnell eine Rendite zu erwirtschaften.
Dies gilt aber nur für einen Bruchteil der rund 3,4 Millionen Unternehmen in 2022 (Statistisches Bundesamt). Und selbst wenn Unternehmen unter einem mehr oder minder großen Renditedruck stehen, greift immer noch die grundlegende Argumentation, dass auch und vielleicht sogar insbesondere Konzerne und große Mittelständler wie BMW, VW oder Würth nur aufgrund der genannten Vorbedingungen seit Jahrzehnten so erfolgreich wirtschaften können, die durch die Demokratie erzeugt, kontinuierlich reproduziert, aufrechterhalten und weiterentwickelt werden. Insofern stellt sich die Frage nach der demokratischen Verantwortungsübernahme dieser konkreten Personen, die als Eigentümer:innen oder Geschäftsführungen/Vorstände obendrein den größten Teil des durch die Belegschaft erwirtschafteten Mehrwerts bei sich versammeln. Und einen guten Teil davon nicht nur in die eigene Firma sondern proportional mit wachsender Größe des Einkommens auch oder vorwiegend in andere Firmen/Aktien investieren. Und somit auch dort all die Vorteile der Demokratie zur weiteren Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulation nutzen.
Es geht auch anders: Engagierte Unternehmen
Geschichten über inspirierende Beispiele können nicht oft genug erzählt werden. Je mehr Menschen davon erfahren, um so besser. Also greife ich hier gerne das Beispiel des in Jena ansässigen, international erfolgreichen Unternehmens Jenoptik auf, über das auch Beschorner berichtete und gehe mehr ins Detail. Am 04.12.2023 erschien im Spiegel ein Artikel über das Unternehmen und seine vorbildliche Kampagne “Bleib offen“, also gut einen Monat vor der Enthüllung der DeportationsAffäre durch CORRECTIV und zwar unter dem trefflichen Titel “Ich will ja hier leben, in einem offenen Land” – einem Zitat aus dem Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden Stefan Traeger. Die Eigentümer:innen und der Vorstand widerlegen somit, dass der Renditezwang einer Aktiengesellschaft die dringend nötige gesellschaftspolitische Positionierung verhindert. Es geht auch anders. Jenoptik zeigt, dass der Mut des Vorstands zur Initiierung dieser Kampagne und anschließend der Belegschaft bei ihrer Umsetzung, sich öffentlich für eine offene Gesellschaft stark zu machen, nicht bloß möglich ist, sondern sogar eine Bedingung zukünftigen Erfolgs ist:
Traeger verweist erstens implizit auf den Fachkräftemangel und macht klar, “dass es nicht noch schwieriger werden darf, gute Leute nach Thüringen oder Sachsen zu holen. Das können wir uns nicht erlauben.” Aber damit nicht genug. Traeger erklärt zudem, dass eine offene Unternehmenskultur mit der Innovationskraft zusammenhängt und über das eigene Unternehmen hinaus einen Einfluss auf Folgeprodukte haben kann: “Wenn wir irgendwann nicht mehr unsere Produkte liefern können, weil wir nicht mehr innovativ genug sind, kann die Welt keine Chips mehr bauen.” Des weiteren erhielt Jenoptik auf seine Kampagne positive Resonanz von anderen Unternehmen sogar über die Region hinaus. Wer mit gutem Beispiel vorangeht, kann also auch andere Unternehmen zu dieser klaren, pro-demokratischen Positionierung inspirieren. Ermutigend ist ebenso, dass die Mitarbeitenden “sofort Feuer und Flamme” waren und damit auch im Innenverhältnis ein positiver Nutzen erzeugt werden kann. Dabei unterschlägt Traeger keineswegs, dass es natürlich auch kritische Stimmen bei den Mitarbeitenden gab und betont, dass es wichtig ist, sich dem in einem offenen Dialog zu stellen.
Anstatt sich also darum zu sorgen, mit einer klaren Kante für eine offene Gesellschaft bei irgendwelchen Stakeholdern anzuecken, ist es zumindest im Fall Jenoptik laut Traeger gerade andersherum: “Es ist erstaunlich, aber ich werde im Ausland jetzt öfter auf Thüringen angesprochen. Vor allem in Europa merkt man, dass regionale Themen plötzlich wichtig werden. Meine Gesprächspartner fragen mich dann: Können wir uns auf euch verlassen, bleibt ihr attraktiv für Mitarbeiter? Was ist da los bei euch?” Und das in einem der Bundesländer, in der die als rechtsextrem eingestufte AfD mit ihren als Remigration verklausulierten Deportationsphantasien mittlerweile über 35% erreichen und damit als Wahlsieger hervorgehen könnte. Mit einem Fraktionsvorsitzenden, der offiziell als Faschist bezeichnet werden darf. Kurzum: Unternehmen sollten dringend das Trittbrett verlassen und sich für unsere Demokratie engagieren.
“Wenn es drauf ankommt, dann muss man Flagge zeigen.” Stefan Traeger, Vorsstandsvorsitzender Jenoptik AG
Wir unternehmensdemokraten sind aktuell in der Planung zu einer Initiative, um Unternehmen zu ermutigen und dafür zu gewinnen, Flagge zu zeigen. Dazu haben wir bereits einen wichtigen Akteur an Bord und gehen in Gespräche mit weiteren Personen, Unternehmen und Medien. Wenn Du auf dem Laufenden bleiben willst, sende uns einfach über dieses Link eine Email. Wir informieren Dich dann über wichtige Updates und kommende Termine.
Herzliche Grüße
Literatur
- Bartz, T. (2023): “Ich will ja hier leben, in einem offenen Land“. Spiegel+
- Bensmann, M.; von Daniels, J.; Dowideit, A. et al. (2024): Geheimplan gegen Deutschland. CORRECTIV
- Beschorner, T. (2024): Eine brandgefährliche Liaison. Zeit Online
- Deutschlandfunk (2024): Geheimtreffen von AfD-Politikern und Rechtsextremisten zur Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund löst Besorgnis aus.
- Gunkel, C. (2024): Die historischen Vorbilder des rechtsextremen Geheimtreffens. Spiegel+
-
Hardin, G. (1968): The Tragedy of the Commons. Science, 162(3859): 1243–1248
- Müller, A.-K. (2024): Die völkischen Visionen der AfD. Spiegel+
- Neuerer, D. (2024): AfD-Treffen mit Neonazis sorgt für Entsetzen in Politik und Wirtschaft. Handelsblatt online
- Ostrom, E. (1999/1990): Die Verfassung der Allmende. Mohr Siebeck
- Tagesthemen, 12.01.2024
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Luca Nebuloni, CC BY 2.0
- Tweet: Screenhot, unbekannt
- Demonstration: ©Andreas Zeuch, 2024
- Hardin: Urheber unbekannt, englische Wikipedia