Hierarchie: Die beiden nach dem Londoner Regierungsbezirk Whitehall benannten Studien sind zwar betagt, haben aber bis heute einen erheblichen Einfluss auf das Verständnis des Zusammenhangs von sozioökonomischem Status und Gesundheit. Durch sie wurde die bis dahin übliche Erklärung von Gesundheit durch individuellen Lebensstil (Rauchen, Trinken, etc.) um “soziale Determinanten” erweitert. Und die hängen stark mit der hierarchischen Position bei der Arbeit ab.
Noch einmal anders formuliert: Die Whitehall-Studien sind wegweisend für das Verständnis des Zusammenhangs sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Whitehall I (ab 1967) untersuchte ausschließlich männliche britische Beamte, während Whitehall II (ab 1985) methodisch und inhaltlich erweitert wurde. Die beiden Studien verdeutlichten den Einfluss der hierarchischen Position bei der Arbeit auf die Gesundheit bis hin zu signifikant erhöhten Sterblichkeitsraten. Auch wenn danach durchaus berechtigte Kritik geübt wurde, so haben diese Studien doch einen grundlegenden Wandel im Verständnis von Gesundheit angestoßen, bei dem der Einfluss der jeweils hierarchischen Position eine deutliche Rolle spielt.
Whitehall I zeigte, dass männliche Angestellte des tiefsten Dienstgrades eine dreimal so hohe Sterblichkeit aufwiesen wie Studienteilnehmer mit dem höchsten Dienstgrad, gemessen im Rahmen einer Langzeitstudie über 10 Jahre. In der darauf folgenden Studie Whitehall II reagierten die Forscher:inne unter anderem auf die berechtigte Kritik, dass in der ersten Studie nur Männer untersucht wurden. Des Weiteren wurde unter anderem weiter herausgearbeitet, dass der Kontrollverlust über einen wichtigen Teil des eigenen Lebens in Folge einer Anstellung auf einer geringen Hierarchiestufe mit längeren Krankenfehlzeiten verbunden ist. Was sich wiederum mit dem seit 2003 erhobenen Gallup Engangement Index deckt, auf den ich unter anderem in meinem Buch “Alle Macht für niemand” eingegangen bin.
Ergebnisse Whitehall I

Zunächst zu den Rahmendaten der Studien: In Whitehall I wurden 17.530 britische Zivilbeamte zwischen 40 und 64 Jahren über einen Zeitraum von zehn Jahren begleitet. Am Anfang stand eine gründliche Eingangsuntersuchung, in der die Studienteilnehmer einen standardisierten kardiovaskulären Gesunheitsfragebogen ausfüllten, in dem das Rauchverhalten, Atemwegssymptome, medizinische Behandlungen und körperliche (Freizeit-)Aktivitäten abgefragt wurden. Dann folgte eine körperliche Untersuchung mit EKG, Blutdruckmessung, Plasma Cholesterol, Blutzucker, Skinfold thickness, Größe und Gewicht. Die Ergebnisse wurden in der Zentralregistratur des britischen National Health Service hinterlegt, so dass im Todesfall der Studienteilnehmer eine Kopie der Sterbeurkunde an die Studienleiter übermittelt wurde. Über diese medizinische Eingangsuntersuchung hinaus wurden die Teilnehmer in verschiedene berufliche Bereiche klassifiziert: Dienstgrade in Feldern wie Verwaltung, Fach- oder Sachbearbeitung, Führungsfunktion und andere wie Handwerker oder Boten.
Neben den im ersten Absatz aufgeführten Zusammenhängen fanden die Forscher ein reziprokes Verhältnis des Dienstgrades und der Todesfolge durch koronare Herzerkrankungen. Die zwei hauptsächlich mit Rauchen verbundenen Erkrankungen, Lungenkrebs und kardiovaskuläre Erkrankungen, folgten ebenfalls diesem reziproken Verhältnis. Als die Kohorte auf statistische Trends von Risikofaktoren untersucht wurde, zeigte sich, dass keiner dieser Trends den Unterschied in der Häufigkeit der koronaren Herzerkrankungen erklären konnte.

Es wurde aber noch erschreckender. Denn obwohl die Wissenschaftler das tatsächlich gefundene reziproke Verhältnis zwischen Dienstgrad und koronaren Erkrankungen bis hin zum dadurch verursachten Tod erwarteten, kamen sie zu dem Ergebnis, dass diese Korrelation bei der allgemeinen Sterblichkeitsrate ebenso stark war. Infolgedessen fanden die Forscher heraus, dass auch andere soziale Faktoren und Umweltbedingungen wie Stress, Ernährung und Körpergröße ebenfalls eine wichtige Rolle spielen könnten. Die Ergebnisse von Whitehall I zeigten schließlich die Bedeutung individueller Merkmale und ihrer ungleichen Verteilung in der Gesellschaft. Die Wissenschaftler schlugen darüber hinaus vor, dass die Erklärung für die unterschiedlichen Sterblichkeiten in den verschiedenen Dienstgraden verknüpft sein könnten mit der Anfälligkeit oder Ballung für verschiedene spezifische Faktoren. Diese Überlegungen und die damit verbundenen Fragen führten neben der oben bereits erwähnten berechtigten Kritik ein paar Jahre später zur zweiten Studie.
Ergebnisse Whitehall II
Für Whitehall II wurden 6895 Männer und 3414 Frauen untersucht. Die Studienteilnehmer:innen stammten dieses Mal aus 20 verschiedenen Londoner Büros unterschiedlicher Behörden. Mit der zweiten Studie reagierten die Forscher:innen auf die Kritik einer zu einseitigen Untersuchungsgruppe von weißen, älteren Männern, wodurch die Übertragbarkeit auf andere Bevölkerungsgruppen eingeschränkt war. Deshalb wurden nun auch Frauen und jüngere Teilnehmer:innen einbezogen (35–55 vs. 40–64 Jahre).
Es zeigte sich, dass der jeweilige Dienstgrad stark verbunden war mit dem Gefühl von Kontrolle über die eigene Arbeit und deren Variationsbreite, gemessen am Handlungsspielraum bei Entscheidungen sowie einem hohen Arbeitstempo, gemessen an den Arbeitsanforderungen. Zusammenfassend wurde deutlich, dass das Fehlen von Kontrolle über die eigene Arbeit mit langen Krankenfehlzeiten von mehr als 6 Tagen verknüpft war. Zusätzlich zeigte sich keine Abnahme der Krankenhäufigkeit (Prävalenz) in Abhängigkeit vom Dienstgrad über die 20 Jahre, die zwischen den beiden Studien lagen. Die Forscher kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass der kumulative Effekt geringer Arbeitskontrolle darauf verweist, dass variationsreichere Arbeit und mehr Mitbestimmung das Risiko koronarer Herzerkrankungen senken könnte.
Aktuelle Ergebnisse sozialer Gesundheitsdeterminanten
Eine aktuelle Studie basierend auf Daten von 2019-2024 in Deutschland untermauert die Ergebnisse von Whitehall I und II (Kersjes et al. 2025). Sie zeigt in beeindruckender Klarheit den Zusammenhang von Einkommen, Bildung und depressiven Symptomen. Kurz gesagt: Das Verhältnis zwischen dem Risiko, klinisch depressiv zu werden und Einkommen und Bildung verhält sich reziprok: Mit sinkendem Einkommen und Bildung wird es wahrscheinlicher, an Depression zu erkranken. Umgekehrt schützt ein höheres Einkommen und Bildung davor, depressiv zu werden. Bei hohen Einkommen zeigten sich 2019 bei 6% der Befragten depressive Symptome und stiegen bis 2024 auf 8,4% an. Bei den geringen Einkommen war bereits der Ausgangswert 2019 mit 16% fast dreimal so hoch wie bei den Personen mit geringem Einkommen – und verdoppelte sich bis 2024 sogar noch auf 32,9%. In Bezug auf Bildung als sozialer Gesundheitsdeterminante war das Bild ähnlich: 5,6% (2019) verdoppelten sich auf 11,2% (2024) bei Menschen mit höherer Bildung, während der Anteil von Personen mit depressiver Symptomatik bei niedriger Bildung von 13,3% (2019) auf 29,3% (2024) fast verdreifachte.
Natürlich sind Einkommen und Bildung nicht identisch mit höheren Hierarchiestufen. Allerdings steigt mit höheren hierarchischen Position auch das Gehalt. Und im allgemeinen korrelieren auch Bildung und hierarchische Stufe. Wir können also davon ausgehen, dass Bildung, Einkommen und hierarchische Position als soziale Determinanten einen erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und damit auch die Sterblichkeit von Menschen haben. Und damit gilt in Bezug auf die Verfasstheit der Arbeit hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung durch höhere hierarchische Positionen, dass diese gesundheitsförderlich ist. Und wer umgekehrt im Beruf weniger selbst entscheiden darf, zugleich weniger verdient und schlechter gebildet ist, ist am Ende obendrein auch noch gesundheitlich schlechter gestellt.
Zugespitzt ließe sich sagen: Mit- und selbstbestimmte Arbeit erhöht die Chance, gesund zu bleiben.
Wollen Sie, dass Ihre Mitarbeitenden gesund sind und bleiben? Dann zählen nicht nur Fragen der Arbeitssicherheit und ergonomische Bürostühle. Sondern auch die jeweils subjektiv erlebte Kontrolle über die eigene Arbeit bei Ihren Führungskräften und Mitarbeitenden. Melden Sie sich und wir entwickeln gemeinsam eine gesunde Gestaltung Ihrer Hierarchie.
Herzliche Grüße
Andreas
Quellen
- Kersjes C. et al. (2025): Einkommen, Bildung und depressive Symptome in Zeiten multipler Krisen. Deutsches Ärzteblatt 122: 573-578
- Marmot, M.G. et al. (1984). Inequalities in death – specific explanations of a general pattern? Lancet 8384, 1003-1006.
- Marmot MG. et al. (1991): Health inequalities among British civil servants: the Whitehall II study. Lancet 337:1387-1393.
Bildnachweis
- Beitragsbild London Whitehall: ©Tbmurray, CC BY 3.0
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