Der Tod von New Work: Helikopter-Eltern, Schneepflug-Eltern, Curling-Eltern

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Helikopter-Eltern: Neulich klingelte beim Abendessen das Telefon. Am anderen Ende war ein mittelprächtig erregter Vater eines Freundes meines siebenjährigen Sohnes. Die beide Jungs hatten es tatsächlich gewagt, sich ohne Rücksprache mit ihm beziehungsweise seiner Frau bei ihnen zu verabreden. Sicher, es ist besser, wenn man das als Eltern mitbekommt, es könnte schließlich sein, dass man was Anderes vor hat. Aber – ganz ehrlich – das sollte kein unüberwindbares Problem darstellen. Aber es war eines. Vor allem, dass der Vater anschließend meine Telefonnummer bei einer benachbarten Mutter glaubte erfragen zu müssen, um mir mitzuteilen, dass ich meinen Sohn abholen kann. Dabei ist bekannt, dass er den Weg sehr wohl alleine gehen kann und auch darf, sind so ca. 500 Meter mit lediglich zwei kleinen Straßen, die gekreuzt werden müssen. Der Witz an der Sache: Das Telefonat dauerte rund 10 Minuten, wobei ich mich sehr zurückgehalten hatte. Der Redeanteil lag zu ca. 90% bei ihm. Sprich: Seine Beschwerde, dass das so ja nicht ginge und er auch noch etwas anderes zu tun habe, fraß deutlich mehr Zeit, als der immense Aufwand, mich telefonisch zu informieren – obwohl das absolut nicht nötig gewesen wäre. Und ja: Natürlich darf sein Sohn nicht alleine zur Schule oder gar zu einem der umliegenden Spielplätze .

Zusammenhang von Helikopter-Eltern und Selbstorganisation

Warum schreibe ich diesen Post heute über Helikopter-Eltern, Curling- und Schneepflug-Eltern? Weil es meines Erachtens eine Menge damit zu tun hat, dass die Kinder in der Folge permanenten Überwachens, Pamperns, Kontrollierens usw. usf. mit Sicherheit nicht dazu erzogen werden, selbstbestimmt zu handeln. Zudem – so meine augenscheinliche Vermutung – gibt es einen Zusammenhang zwischen dem gnadenlos überprotektiven Verhalten dieser Eltern und den neu aufkeimenden Sehnsüchten von Student*innen und jungen Berufstätigen nach einem ebenso sicheren wie routinierten Jobs. Wer diesbezüglich den Bericht der Studie „Generation A(ngst) – mit ihr haben wir nicht gerechnet“ von Julia Culen hier im Blog nicht nicht kennt, sollte ihn sich mal zu Gemüte führen.

Des Weiteren sehe ich einen Zusammenhang zu den zunehmend öfter diagnostizierten psychischen Problemen mit Krankheitswert bei Studenten und nicht studierenden jungen Erwachsenen (was sogar schon 2013 in einer Studie gezeigt wurde, dazu später mehr). Wie soll man und frau angstfrei leben, wenn Mami und Papi alle Hindernisse aus dem Weg räumen, selbst dann, wenn der Prinz oder die Prinzessin das unfassbare Risiko eingegangen sind, das elterliche Nest zu verlassen? Wenn Kinder und Jugendliche nichts, aber auch rein gar nichts an Problemen selber bewältigen müssen, wie sollen sie dann auch nur den Hauch einer gesunden Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeitserwartung entwickeln? Entweder trauen sie sich nichts zu oder sie halten sich für den oder die nächste Nobelpreisträgerin. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben.

Helikopter-Eltern: Geschichten zwischen Angst und Anmaßung

Grundlage für die herzwackenden Geschmacksproben hier waren glücklicherweise keine weiteren einschlägigen Erfahrungen. Stattdessen muss ich auf die mittelprächtig irrwitzige Dokumentation des Pamper-Wahnsinns zurückgreifen: „Verschieben sie die Deutscharbeit – Mein Sohn hat Geburtstag!“ von Lena Greiner und Carola Padtberg. Das Material wurde aus persönlichen Gesprächen mit Betroffenen sowie Einsendungen von Spiegel-Online Leser*innen zusammengetragen und entlang der psycho-physiologischen Entwicklung der Kinder geordnet, von der Schwangerschaft bis zur Berufsausübung. Ja tatsächlich, professionelle Helikopter-Eltern hören mit ihrer rekordverdächtigen Pamperei natürlich nicht auf, wenn der Nachwuchs nach der erfolgten Berufsausbildung dem Wunschjob nachgeht.

Schwangerschaft und Babyalter

Wir alle, die wir nicht nur Bildzeitung oder Facebook Chroniken lesen, wissen: Nomen est Omen. Kevin und Tschakkeline haben es deutlich schwerer in der Schule, Berufsausbildung und schließlich der täglichen Arbeit als Sophie oder Maximilian. Und da die richtigen Profis unter den Helikopter-Eltern eher aus der gehobenen Mittelschicht bis Oberschicht zu kommen scheinen (jedenfalls wenn man sich die immer wieder zitierten SUV Staus zum morgendlichen Schulbeginn vor Augen führt), ist natürlich klar: Die zukünftigen Prinzessinnen und Prinzen brauchen einen würdigen Namen, der ihnen eine große Zukunft sichert. Da aber die Eltern entweder beide einem enorm wichtigen Beruf zumeist irgendwo als Führungskraft nachgehen oder aber Papi in innovativer Frische schuftet, während Mami das hart verdiente Geld in schöner Regelmäßigkeit ausgibt und zunehmend größere kosmetische Probleme mit fortschreitendem Alter in den Griff bekommen muss (schließlich wurde ja der klassische Deal zwischen Mann und Frau geschlossen) – deshalb bleibt keine Zeit, selber einen schönen Namen zu suchen und möglicherweise noch über dessen Bedeutung nachzudenken (Gott bewahre!). Ergo gibt es mittlerweile Agenturen, die diesen unwürdigen Job für die Eltern übernehmen, beispielsweise für geradezu proletarische 28.000 Schweizer Fränkli (dafür wird der Name in 12 Sprachen geprüft, es wird eine “glaubwürdige neue Geschichte und Mythologie” um den Namen herum entwickelt und auf Wunsch gibt es noch ein wissenschaftliches Gutachten). Nun, ein gewisses Investment muss sein, vor allem, wenn die kleinen Hosenscheißer später mal international Karriere machen sollen.

Während der Schwangerschaft beginnen die Helis dann ihre hoffentlich maximal steile Karriere: Nur darauf zu achten, was Mami verspeist, ist lediglich jämmerliches Mittelmaß, so ca. C-Liga. Um aufzusteigen, muss frau schon eine zumindest temporäre Lebensmittelparanoia entwickeln und etwa allüberall Toxoplasmose erwarten: „Ich wurde von den Helikopter-Eltern mehrfach darauf hingewiesen, dass die Toxoplasmose sogar im Topf der Yucca-Palme lauere. Ich sollte nicht über Rasen laufen, denn da könnte ja Katzenkot liegen. Sie sahen Todesgefahr in der Salami, Todesgefahr im Fisch, Todesgefahr überall. Das ist schon fortgeschritten, well done! Um zur Spitzenklasse zu gehören (was ein allgemeingültiger, vielleicht sogar DER zentrale Topos der Helis ist) braucht es aber noch mehr. Ein Baby-Phone mit Infrarot-Video und Temperaturüberwachung, eine Atemsensormatte oder ein Mini-Ultraschallgerät ist ein solider Schritt in die richtige Richtung: „Ich habe während der Schwangerschaft jeden Tag die Herztöne meines Krümels gehört. Einerseits war es toll, das Herzchen klopfen zu hören, und es hat mich dann auch beruhigt. Andererseits bin ich fast durchgedreht, wenn Lea ungünstig in meinem Bauch lag und ich die Herztöne einfach nicht finden konnte.“ Ja, so ist das, wenn man keine Ärztin ist. Die Frau war aber auch wirklich unverantwortlich, total inkonsequent: Sie hätte gefälligst mal vorher Ärztin werden sollen, Fachrichtung Pädiatrie. Ich wäre dafür, der Frau das Jugendamt auf den Hals zu schicken, verdammte Dilettantin!

Wenn dann Lea oder der kleine Friedrich (der irgendwann natürlich der Große sein wird!) das Licht der Welt erblickt hat, müssen UMGEHEND (!!) Stammzellen aus der Nabelschnur eingefroren werden, man weiß ja nie, ob nicht in 20 Jahren eine Krankheit via Stammzellen basierter Therapie geheilt werden kann. Als nächster Schritt ist gaaanz wichtig, passende Babysitter und Tagesmütter zu finden – und zwar auch hinsichtlich äußerlicher Kriterien: „Ich erhielt von einer Erstgebärenden … eine Anfrage zur Nachsorgebetreuung. Ich … schlug wie üblich vor, einen Kennenlerntermin zu vereinbaren… Ihre Antwort kam zügig: Erst einmal solle ich ein Bild von mir per Mail schicken, denn ihr Kind hätte einen Anspruch auf Ästhetik, und zwar vom ersten Lebenstag an.“ Recht so, ich hätte als Baby auch keinen Bock gehabt auf ne olle Babysitterin ohne Playmate Optik und Prada Handtäschchen!

Kita und Vorschulalter

KitaDas Rat-Race nimmt jetzt allmählich Fahrt auf, wurde auch Zeit. Als erstes ist wichtig, dass Spielen Zeitverschwendung ist. „Die Eltern sagen: In der Zeit (des freien Spiels, AZ) könnte man Zahlen oder Englisch lernen.“ (S. 28f). Oder noch besser: Mandarin. Das ist schließlich die aufstrebende Wirtschaftsmacht! Und weil allerspätestens hier der Bildungsgrundstein gelegt wird, wollen die Eltern natürlich in der Kita hospitieren. Logisch. Und wenn das nicht geht, dann muss halt das gute alte Schlüsselloch herhalten sowie die Anweisung, täglich regelmäßig Fotos zu machen und via WhatsApp zu teilen. Mami und Papi müssen doch wissen, ob alles schick ist. Ich muss wirklich sagen: Ich schäme mich gewaltig, dass meine Exfrau und ich mit einer Besichtigung und einem Kennenlerngespräch zufrieden waren und allen Ernstes nicht vor dem Schlüsselloch gehockt haben (tatsächlich wäre uns das vermutlich peinlich gewesen, ein Gefühl, das dem Dasein als Helikopter-Eltern diametral gegenübersteht. Wir müssen also noch an unseren Schamgrenzen arbeiten. Eine Therapie könnte hilfreich sein.) Kurzum: Wir waren wirklich total verantwortungslos, wie ich jetzt erkenne. Aber der Ernteertrag des Bauern ist bekanntermaßen reziprok zu seinem Intelligenzquotienten und unsere Söhne haben diese verschwenderischen Jahre des freien Spiels und die damit verbundene Bildungs-Deprivation scheinbar schadlos überstanden (für die SUV Kosmetik-Supermamis: Deprivation = Entbehrung, Entzug, Verlust). Wobei: Das dicke Ende kann ja noch kommen, vermutlich landen sie deshalb noch im Knast oder enden als grenzdebile Dauerarbeitslose.

Wer seine zumindest in irgendeiner Disziplin weltrekordverdächtigen Kinder schon früh fordert, muss die Leine zum Ausgleich natürlich auch mal locker lassen: „In der Abholsituation besprach ich … etwas mit einer Mutter… Der Vierjährige begann … mir kraftvoll gegen das Schienbein zu treten, während die Mutter völlig ungerührt dabeistand. Als ich sie fragte, warum sie das Kind nicht zurechtweise, erwiderte sie: ›Warum? Er hat doch Sie getreten und nicht mich.“ (S. 31) Hey, natürlich! Die Erzieherin wird doch schließlich auch fürstlich bezahlt. Außerdem dürfen wir asozialen nicht helikotpernden Eltern eines nicht vergessen: „Wir hatten einen Jungen in der Einrichtung, der jeden beleidigen durfte, auch uns Erwachsene und seine Eltern. Ich sprach die Eltern darauf an. Der Vater antwortete: ›Mein Junge wird später einen Chefposten haben, da muss er auch auf niemanden hören.“ (S. 31) Ah, natürlich, wir dämlichen Erfüllungsgehilfen! Da übt nur der kleine Fritz sein späteres New Work affines Chefgebaren (oh je, jetzt fürchte ich Ärger weil ich den zukünftig großen Friedrich den kleinen Fritz genannt habe. Unverzeihlich. Manche Helikopter-Eltern würden mir sofort den Umgang mit ihrem zukünftigen Mark Zuckerberg per einstweiliger Verfügung verbieten).

Selbstverständlich weiß so manche Mami und mancher Papi grundsätzlich alles besser, egal, ob sie gerade mal das erste Kind haben und in der Kita Erzieher*innen arbeiten, die es seit Jahren mit hunderten von Kindern zu tun hatten: „Als etwa ein Sechsjähriger im Garten mit Steinen um sich warf und die Erzieherin der Mutter davon berichtete, antwortete diese: »Ja, ich habe mich auch schon länger gefragt, was bei Ihnen in der Gruppe nicht stimmt; denn das ist ja wohl ein Schrei nach Aufmerksamkeit!“ (S. 35) Natürlich, was sonst! Die völlig insuffiziente Erzieherin hat sich ganz offensichtlich ihren Abschluss mit sexuellen Gegenleistungen ergaunert, anders ist die dreiste Implikation, dass es sich um einen unerzogenen Rotzlöffel handeln könnte, nicht nachvollziehbar. Außerdem gibt mindestens Kinder erster und zweiter Klasse. Erstere dürfen einfach mehr als das faule Fußvolk: „Ich darf das …, mein Vater ist Richter.“ (S. 35) Strike! Last not least sorgen die Helis liebevoll dafür, dass ihr heiliger Nachwuchs nicht nur intellektuell und sozial überlegen ist, sondern auch im Kampf aller gegen alle nicht untergeht: „Ich habe Michael gesagt, dass er die anderen Kinder schlagen soll, wenn sie ihn blöd angehen. Er soll ja kein Weichei werden.“ (ebend.) Yeah, der Mann hat noch Eier in der Hose, nicht so wie ich jämmerlicher Versager, der seinen Söhnen beibringt, maximal lange friedliche Lösungen zu suchen. Das kommt halt davon, wenn man nur Karate trainiert und nicht MMA!

Schule

Schule

Ihr wisst doch: Non scholae, sed vitae discimus. (auch wenn das die vulgäre Umkehrung der ironischen Spitze Senecas gegen die römischen Philosophenschulen war, aber sei’s drum, das wäre jetzt auch den Heli-Übermenschen zuviel Bildung, vor allem, weil sie ökonomisch völlig unproduktiv ist.). Ergo beginnt jetzt nach dem 6 jährigen Warmup der Ernst des Lebens. Alles bis hierher war nichts weiter als Vorgeplänkel. 

Die größte Reise beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt – und der sollte um Gottes Willen bloß nicht alleine stattfinden! Wo kämen wir denn da hin? Die Unfallstatistik würde ins Unermessliche steigen, wenn die kleinen Genies alleine zur Schule gehen oder fahren würden. Aus diesem guten Grund “machen sich nur rund 50 Prozent der Schüler eigenständig auf den Weg zur Schule. Vor 40 Jahren waren es noch über 90 Prozent. Und das obwohl die Zahl der tödlichen Unfälle im Straßenverkehr – gerade bei Kindern – extrem gesunken ist.” (S. 51). Hey ihr intellektuell schwachbrüstigen Autorinnen: Die Verbesserung der Unfallstatistik ist natürlich ein Ergebnis dieser weisen Vorsicht der Helikopter-Eltern! So rum wird ein Schuh draus. Zudem müssen die armen Helis noch die Bürde asozialen Verhaltens auf sich nehmen, um ihren grundsätzlich hochbegabten Sprösslingen den Weg frei zu machen: “Besonders bemerkenswert ist, wie rücksichtslos Eltern sich gegenüber anderen Schulkindern verhalten – also genau solchen Wesen wie dem, das sie gerade wie ein rohes Ei bei seinem Lehrer abgeliefert haben.” (S. 52) Dabei reden wir nicht über völlig durchgeknallte Ausnahmen, die ich breittrete: “Viele Schulen, etwa in Aachen, Mainz oder Karlsruhe, haben inzwischen sogenannte Kiss-and-Go-Zonen ausgewiesen, in denen Eltern sicher anhalten und ihre Kinder zu einem Restfußweg aussteigen lassen können.” (S. 53, merke: RESTfußweg!). Selbst der ADAC spricht schon Verhaltensempfehlungen aus. Da ist der nächste Schritt nicht weit: “Bei dem Verkehrschaos hier morgens vor der Schule stelle ich den Antrag, dass wir auf dem Lehrerparkplatz eine Aus-und Einsteigespur für Schüler einrichten.” (S. 54) Recht so, ein bisschen Engagement können wir von den Lehrern ja schon erwarten.

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Aber damit nicht genug, das käme ja sonst der völligen Verwahrlosung gleich: “Die Klassentür war bereits zu, doch trotz Aufforderung weigerte sich eine Mutter, sofort die Klasse zu verlassen – mit dem Argument: ›Ich muss meinem Sohn NUR noch die Hausschuhe anziehen und bin dann GLEICH weg. Oder wollen SIE, dass er sich erkältet?‹ Alter des Sohnes, der sich bei der Aktion auch nicht wohl fühlte: fast zehn Jahre.” Da hilft nichts. Als vorbildliche Heli-Mami führt kein Weg an dieser Lungenentzündungsprophylaxe vorbei. Und dann muss sich die arme Frau auch noch blöd von der Lehrkraft anmachen lassen. Überhaupt, diese Lehrer leiden wohl an maßloser Megalomanie (= Größenwahn, liebe SUV Mamis): “Gerade letzte Woche hat eine Mutter zu mir gesagt: “Wer sind Sie? Sind sie nur eine Lehrerin oder sind Sie Gott, dass Sie meinem Sohn sagen, was er zu tun hat.” (S. 63) Boom, Uppercut in der ersten Runde!

Tja, aber so richtig haarig wird es, wenn die Götterkids einen Schulausflug unternehmen sollen oder gar – welch irrwitziges Vorhaben – eine Klassenfahrt. Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen der Helis! Die Spreu gibt lediglich treffliche Anweisungen an das Lehrpersonal und bleibt unverantwortlich egomanisch zuhause: “Wir planten einen Ausflug ins Schullandheim. Eine Mutter bat uns als Klassenleitung … darum, ihre Tochter täglich daran zu erinnern, dass diese ›groß machen‹ solle. Das Mädchen war elf Jahre alt.” (S. 74) Wieso mokiert sich denn die Klassenleitung? Schließlich können die 24/7 gepamperten Gören ihren gastrokolischen Reflex in fremder Umgebung völlig vergessen (ist ja schließlich vegetativ gesteuert, gell?) und es droht die Gefahr, dass sich 11 jährige in die Hose machen. Keine Frage! Und überhaupt: Die Mami bleibt doch ansonsten zuhause, was wollen Lehrende denn noch? Wollen sie den Weizen? Null Problemo: “Zwei Kollegen waren mit einer 6. Klasse auf eine Nordseeinsel gefahren. Am zweiten Tag … saßen die Betreuer mit den Schülern draußen in der Sonne … als ein Auto auf den Parkplatz … fuhr. Ein Elternpaar stieg aus, lief auf die Gruppe zu, begrüßte ihr eigenes Kind überschwänglich und sagte dann zum Klassenlehrer: ›Wir haben uns spontan entschlossen, hier auf der Insel ein paar Tage Urlaub zu machen und würden Jonathan gern für einen Tag mitnehmen. Er hat uns angerufen und erzählt, das Essen sei nicht wirklich lecker. Wir gehen deshalb mit ihm essen und bringen ihn heute Abend zurück. Also dann, tschü-hüüss.‹” (S. 73) Geht nicht, gibt’s nicht! Die crème de la crème der Helis macht sich selbst auf den Weg und nimmt sich mal eben schnell Urlaub, um den kleinen Jonathan vor dem kulinarischen Supergau heldenhaft zu retten.

Selbstredend ist das noch nicht das Ende der schulischen Fahnenstange. Es gibt ja noch den Schüleraustausch und Praktika, weitere überaus brenzlige Herausforderungen! Da muss dann Rücksicht auf die Essgewohnheiten der so manches Mal hyperallergischen verzogenen Blagen genommen werden oder am besten gleich der Termin an die Urlaubsplanung der Helikopter-Familien angepasst werden. Man ist ja schließlich nicht irgendwer. Auch wenn Mann und seine SUV Lady nur auf dem Prenzlauer Berg wohnen und noch nicht ganz Bernard Arnault sind. Aber der Sohn oder die Tochter werden den reichsten Mann der Welt sicher wie einen armen Schlucker aussehen lassen und vom Thron stoßen, wenn sie dann mal mit Hilfe von Mami und Papi sogar das unerhört krass fordernde Studium absolviert haben. Und sollte da mal keine 1 mit * dabei sein, dann beschweren sich Mami und Papi derart renitent, dass so manch ein Professor oder Dozent schon mal nachgibt. Mission accomplished!

Zwischen Ohnmacht und Omnipotenz

Den Helis ist jegliches Augenmaß verloren gegangen, sofern sie es denn jemals hatten. Elterliche Intuition? Fehlanzeige. Gesunder Menschenverstand? Hä, was’n das? Jedenfalls nix für Siegertypen: „Eine Mutter rief mich an und berichtete, ihr vier Jahre alter Sohn weigere sich, selbst etwas zu essen. Er wolle gefüttert werden. Da er einen zarten Körperbau habe, wolle sie natürlich, dass das Kind etwas esse. Ihre Frage: Soll sie ihn weiter füttern, damit er genug isst?“ Das ist echte Mutterliebe, wenn frau schon nicht alles besser weiß, dann fragt frau halt nach und beweist wenigstens damit ihre Überlegenheit vor all den anderen Müttern, die sich nicht professionell Hilfe holen. 

Und was, wenn die Helis mal keine Zeit für ihre kleinen heiß geliebten Genies haben? Na klar, der Führungsanspruch schlägt auch im Privatleben durch. Da wird schnell und gerne delegiert und Anweisungen erteilt: “Ich rief eine Mutter an, deren Kind während der Schulzeit krank geworden war, dass es abgeholt werden musste. Ihre Reaktion: “Können Sie nicht mit Ihr zum Arzt gehen? Ich habe keine Zeit.” Logisch, wozu werden die Lehrenden denn sonst bezahlt? Den Unterricht würden die Helikopter-Eltern ja ohnehin viel professioneller und erfolgreicher durchführen.

Oder aber die Super-Ellis weichen ihren Wunderkindern beim Arzt nicht von der Seite, selbst dann, wenn es die Behandlung sinnvollerweise erfordert. Oder sie sind selbst derartig panisch, dass der kleine Fritz schon mit einem Bein im Grab liegt, dass sie Ihre knallneurotischen Ängste überaus erfolgreich auf das Kind übertragen. Dann bleibt den bösen Ärzt*innen häufig nur der Rausschmiss – was wiederum zu Beschwerden bei der Klinikdirektion führt. Am besten natürlich mit dem erfolgreichsten Anwalt, der im Umfeld zu kriegen ist. Fußnote: Mittlerweile müssen sogar Anwälte in vielen Fällen den Eltern klarmachen, dass eine Klage nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg hätte.

Stolze Ergebnisse der Helikopter-Eltern

Selbstverständlich werden die Superkinder der Supereltern extrem schnell eigenständig und sind in der Lage, flexibel auf jegliche Situationen zu reagieren und so erfolgreich ihr Leben zu meistern: „(Wir) betreuen … einen Jungen, der bei uns wahrscheinlich nie sein großes Geschäft machen wird – weil seine Eltern nicht zur Stelle sind. Er fordert, dass wir sie anrufen, damit sie ihm den Po abwischen.“ Na aber selbstverständlich müssen bei diesem entwicklungspsychologisch zentralen digestiven Großereignis am besten Mami UND Papi dabei sein und das Klopapier gemeinsam führen. Wo kämen wir denn hin, wenn die kleinen Puper von einer gemeinen Erzieherin hygienisch versorgt werden? Dieser zukünftig sicher erfolgreiche Chef hat eine gute Portion Rückgrat bewiesen, seinem Reflex, sich zu entleeren, Einhalt zu gebieten, bis Mami und / oder Papi da sind. Das schafft nicht jeder, das braucht eisernen Willen. Klar dass eine durchschnittliche Erzieherin nicht kapiert, dass diese Szenerie ein intensives und frühes Führungskräftetraining ist. 

In einer Ausgabe des Focus 2017 kommt der Kinderpsychiater Michael Winterhoff zu Wort: “Ändert sich in Zukunft nichts daran, sieht Winterhoff schwarz: „Immer mehr Heranwachsende sind nach Schulabschluss nicht im herkömmlichen Sinne arbeitsfähig. Es fehlt ihnen an Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Akzeptanz von Strukturen und Abläufen. Wenn das so weitergeht, steuern wir auf einen riesigen Fachkräftemangel zu.” (Focus 2017: Katastrophales Bildungsniveau von Schülern) Unsere tapferen Helikopter-Eltern arbeiten also nach bestem Wissen und Gewissen daran, dass der Fachkräftemangel endlich flächendeckend Wirklichkeit wird. Denn eines ist klar: Helis wissen es einfach besser: “Ich fahre übrigens einen Geländewagen aus deutscher Produktion (sic!), und mit dem fahre ich auch auf den Schulhof, wenn es sein muss. Helikopter-Eltern sind die besten Eltern der Welt.” (S. 213) Jawoll, Supermami. Wir anderen sind alle jämmerliche Versager und Rabeneltern. Ich werde demnächst meine Kinder zur Adoption freigeben – aber nur an eine derart bescheidene und selbstreflektierte MMM – Monster-Mega-Mami!

Summa Summarum: Wer also diese brillante Erziehung zu selbstständigen, eigenverantwortlichen Menschen würdigt, der versteht, warum sich angehende Berufstätige allen Ernstes Routine und Sicherheit im Job wünschen, obwohl voraussichtlich genau diese Routinejobs digitalisiert werden. Wer sein Leben lang von Herausforderungen, Problemen und trivialen Alltagstätigkeiten abgeschottet wurde, wird nicht in der Lage sein, agile und selbstorganisierte Arbeitskultur auch nur zu verstehen. Geschweige denn in so einer Kultur mit den entsprechenden Prozessen erfolgreich zu arbeiten. Das haben natürlich Studien wissenschaftlich zeigen können, wie zB Schiffrin et al. bereits 2013. Und mehr noch: Die jungen Menschen sind nicht nur signifikant unfähiger, autonom zu handeln, sie weisen auch noch häufiger psychische Probleme wie Depressionen und Angstzustände auf. Eben das, was einem der gesunde Menschenverstand sagt. Oh Wunder.

Danke liebe Helikopter-Eltern, ihr seid die Architekten einer großen, selbstbestimmten Zukunft der Arbeit!

Abschließend noch ein aktueller Tipp (Stand 15.02.2023): Einen sehr guten Beitrag zu diesem Thema und der Frage, ob zuviel Liebe schädlich sein kann, gibt’s hier: https://starkekids.com/helikopter-eltern/.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Quelle und Literaturhinweise

  • Focus (2017): Katastrophales Bildungsniveau von Schülern: Experte gibt bestimmten Eltern Schuld.
  • Greiner, L.; Padtberg, C. (2017): „Verschieben sie die Deutscharbeit – Mein Sohn hat Geburtstag!“, Ullstein
  • Kraus, Josef (2013): Helikopter-Eltern. Rowohlt
  • Schiffrin, H. et al. (2013): Helping or Hovering? The Effects of Helicopter Parenting on College Students’ Well-Being. Journal of Child and Family Studies, Vol. 3, Issue 3: 548-557
  • Sirota, M. (2017): Helikopter-Eltern ziehen junge Menschen heran, die keiner anstellen will. Business Insider
  • Zilibotti, F. (2016): Ungleicheit und Helikopter-Eltern. Finanz und Wirtschaft

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Spacedezert, unsplash, lizenzfrei
  • Föten: Stinelk , gemeinfrei
  • Kita: Lienhard Schulz, CC BY-SA 3.0
  • Schule: Michael Sander, CC BY-SA 3.0
  • Bernard Arnault: ©Jérémy Barande, CC BY-SA 2.0

Comments (4)

Lieber Andreas,
Ich fange mal mit einem “Smile” an! Und einem JA, ich kann deine – ich nenne sie mal diplomatisch – Irritation über diese Eltern.
In diesem Kommentar antwort ich NICHT als Unternehmerin, sondern wohl viel mehr als Mensch und Soziologin … und auch als Hauptmieterin mit 2 Untermietern. Letzteres mache ich mit Herzblut bereits seit 2011. Meine Untermieter (nur männlich) sind alle immer unter 30 – danach werden wir alle (mich eingeschlossen) zu sehr “eigen”. Und das muß ja nicht sein. Da bin ich auch mal ganz klar dominat …
Doch wieder zurück zum Thema: meine Untermieter sind klasse. Sie sind sehr “selbstständig”. Sonst würden sie auch nicht in einer WG wohnen, sondern alleine. Gerade hatte ich nach einem Mieterwechsel Anfang Mai das Gespräch mit meinem langjährigen Untermieter (seit 2014). Wir waren beide begeistert, dass der neue Untermieter uns beiden trotz gaaaaanz vieler Bewerber sofort sympathisch war! Passend hatten auch 3 andere Bewerber abgesagt. Und der Neue war bereit nach unserem erneuten Anruf nochmal umzudrehen. Schon schön, wenn es paßt, oder? Und ja wie ging das?
Ich glaube, das geht nur- und da bin ich wieder 100% bei dir Andreas! – wenn der Mensch gelernt hat, JA und NEIN zu sagen. Und auch spontan zu handeln ohne Schema F. Dann gelingen scheinbar andere Wege als normal. – Und wie sagte mein langjähriger Untermieter dazu: “Ja, ich bin auch nicht normal. Und das bin ich gerne. Denn ich will selbst entscheiden, was und wie ich es mache!” PS: Dieser Untermieter spricht trotzdem immer noch liebevoll von “Mutti” auch wenn die jetzt auf seine Entscheidung hin mehr als 400km in NRW lebt mit ihrem neuen Ehemann und seinem Stiefvater, zu dem er auch ein sehr gutes Verhältnis hat.
Ihr merkt vielleicht, anders als normal ist in einer konformen Gesellschaft in der nicht nur (aus meiner Sicht) die Kinder von Heli-Eltern getunt werden nicht mehr akzeptiert. Denn auch die Eltern werden immer wieder von Politik und sozialen Normen “das macht man/frau aber so und nicht so!” auf Spur gehalten. Denn sonst fliegen sie aus der Gruppe. Und in der Gruppe wollen ja scheinbar alle bleiben – warum sonst wird der Anteil der Selbstständigen sei es in Hauptgewerbe oder Nebengewerbe immer kleiner. Nix ist es mehr mit “No Risk no fun”. Für niemand! Schade, denn das macht Spaß und hat mir mit meinem Alterego Pippi L. immer ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und ganz viel neues Unbekanntes in mein Leben gebracht 😉
Bitte bleibe nachhaltige gesund und lebe mit Lust und kleinem (oder auch größerem) Geldbeutel
Eure Christine

Lieber Andreas, böse böse aber gut! Diese Welt ist einfach zu gefährlich für die Protektionistin der Dissozialität. Der Planet Erde ist also doch eine Scheibe, genauer eine Rennbahn mit Katapult ins Nirvana. Nur, da wir normal Sterblichen das noch nicht erkannt haben, sind wir eben prädestiniert für’s Avicii. So isses eben. Die Lebensuntauglichen landen dann in der Psychiatrie oder bisweilen im Maßregelvollzug, aber was soll’s, schafft ja auch Arbeitsplätze. ?. Danke Dir Grüße Stephan

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