In meinem Beitrag „Gedanken zum neuen Jahrzehnt“ schrieb ich unter anderem über die Einkommens- und Vermögensspanne und deren Folgen. In diesem Zusammenhang stellte ich fest, dass New Pay aktuell noch auf die Erneuerung von Vergütungsmodellen innerhalb einer Organisation reduziert wird. Wir brauchen aber einen neuen Ansatz interdisziplinärer Vergütung und zwar dringend – was noch nie so deutlich wurde, wie in der aktuellen Situation.
Es besteht kein Zweifel, dass es innerhalb eines Arbeitgebers häufig oder vielleicht sogar meist an einer Verteilungsgerechtigkeit mangelt. Das ist der mittlerweile intensiv diskutierte Gender Pay Gap (1995 = 21%, 2019 = 20% unbereinigte Differenz in Deutschland (Statista 2020); vgl. Neuhaus 2020) wie auch andere Verteilungsungerechtigkeiten, besonders das häufig horrende Verhältnis zwischen Topmanagern in Konzernen und deren Mitarbeiter*innen (zB Fockenbrock & Fröndhoff 2016). Ganz aktuell scheint ja bei SAP jegliche Vernunft- und Schamgrenze zu fallen, wenn nun 34,5 Millionen Euro als künftige Maximalhöhe des CEO festgelegt werden sollen. Wenn wir Arbeit neu gestalten wollen, sollten wir unbedingt die aktuellen Gehaltsmodelle gründlich auf den Prüfstand stellen und jeweils neu gestalten. Das kann allerlei Formen annehmen. Wir unternehmensdemokraten arbeiten zum Beispiel aktuell an einem transparenten, bedarfsbezogenen Modell.
Neben der Transformation unserer Organisationsstrukturen und -kulturen ist eine Veränderung unserer Gehaltssysteme also dringend nötig. Das haben die Autor*innen mit Ihrem Buch “New Pay. Alternative Arbeits- und Entlohnungsmodelle” deutlich gemacht. Allerdings geht diese wichtige, anstehende Erneuerung weit hinaus über die Frage, wie die Entlohnung innerhalb einer Organisation gestaltet wird. Denn bekanntermaßen haben wir schon jetzt heftige Verteilungsungerechtigkeiten, insbesondere bei Berufen, die für unsere Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind: Alten- und Krankenpflege, Kindergärtner*innen, Polizei- und Feuerwehr und dergleichen mehr. Das führt bei denjenigen, die in diesen Berufen arbeiten, zu einer gefühlten Ungerechtigkeit, die nachweislich gesundheitliche Konsequenzen nach sich zieht (dazu mehr im nächsten Abschnitt) – da hilft auch kein konzertierter Balkonapplaus, und sei dies noch so ehrlich und gut gemeint. Wenn dieser Applaus dann noch im Bundestag von denjenigen zelebriert wird, die für den Professional Pay Gap mit verantwortlich sind, wundere ich mich nicht, dass dies von Pfleger*innen als zynisch interpretiert wird. Dieser Missstand wurde auch jüngst von Lisa Herzog, Professorin am Centre for Philosophy, Politics and Economics der Universität Groningen in einem Interview im Spiegel thematisiert.
Verständlicherweise sinkt bei denjenigen, die sich auf die Berufswelt vorbereiten, das Interesse, diese Ausbeutungen mitzuspielen, insbesondere in der Pflege, in der die Gehälter vorwiegend aus Gründen einer zerstörerischen Gewinnmaximierung privater Anbieter maximal niedrig gehalten werden. Nicht zufällig sind tausende Stellen in den benannten Berufen unbesetzt, Tendenz weiter steigend. Da ist die aktuelle Einmalzahlung von € 1500,- eine nette Geste, aber nicht mehr. Kritisch betrachtet könnte mensch es auch als Sedativum interpretieren. Ganz zu schweigen von all den Abertausenden, die sich ehrenamtlich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft kümmern, Tag für Tag, jede Woche, jahrein, jahraus, wie die Spiegel Kolumnistin Samira El Ouassil in einem Beitrag vor Kurzem zu Recht erinnerte.
Stabile Gesellschaften brauchen Verteilungsgerechtigkeit
Verschiedene Studien zeigen seit geraumer Zeit die Folgen gefühlter Ungerechtigkeit in der Vergütung. In einer Untersuchung der Universität Ravensburg-Weingarten werden seit acht Jahren gut 5600 Mitarbeiter*innen zu Jobzufriedenheit und gerechter Einkommenshöhe befragt. Diejenigen Teilnehmer*innen, die Ihr Gehalt als ungerecht erleben, haben ein 64% höheres Risiko, an stressbedingten Erkrankungen und Depression zu erleiden. Wenn wir das in Verbindung setzen mit einem Ergebnis der Unternehmensberatung Korn Ferry, sollte uns das als ungerecht erlebte Gehalt zu denken geben: Die Gehaltszufriedenheit sank in Deutschland von 2012 – 2016 von 40% auf gut ein Drittel. Dieses Ergebnis deckt sich mit einem aktuelleren Ergebnis bei Statista aus diesem Jahr: Satte 68% meinen, sie müssten mehr Geld verdienen und nur 28% sind zufrieden, also sogar noch weniger, als in der Untersuchung von Korn Ferry.
Dazu passen noch weitere Forschungsergebnisse: Der Ökonom Christian Pfeifer von der Leuphana Universität Lüneburg untersuchte das Schlafverhalten in Zusammenhang mit der erlebten Lohngerechtigkeit (Pfeifer 2015). Er untersuchte für die Fragestellung die Daten des Sozioökonomischen Panels aus den Jahren 2009, 2011 und 2013, das mit 14.000 befragten Haushalten 30.000 Einzelpersonen erfasst und seit 1984 eine regelmäßige Erhebung ist. Nicht überraschend, die Arbeitnehmer*innen mit der erlebten Ungerechtigkeit schliefen schlechter und weniger. Da wiederum die Qualität des Schlafs stark mit verschiedenen gesundheitlichen Parametern zusammenhängt, untermauert dieses Ergebnis das der eingangs erwähnten Studie der Universität Ravensburg-Weingarten.
Neben den gesundheitlichen Problemen der Betroffenen Arbeitnehmer*innen stellt sich sogleich noch die volkswirtschaftliche Frage: Wer zahlt die Zeche für die als zu niedrig erlebten Gehälter? Genau: Die Solidargemeinschaft der Krankenkassenmitglieder. Ein besonders perfider Fall externer Kosten. Allerdings ist die Rechnung noch etwas komplizierter: Denn auch für die Arbeitgeber, deren Löhne als nicht gerecht erlebt werden, entstehen unnötige Kosten. Schließlich wird es infolge der stressbedingten Erkrankungen und Depressionen zu Krankheitsausfällen kommen, die entsprechende Kosten nach sich ziehen. Somit lohnt es sich auch betriebswirtschaftlich, für einen größtenteils gerecht erlebten Lohn zu sorgen.
Als ob das alles nicht schon genug wäre, ist die mangelhafte Entlohnung insbesondere systemrelevanter Berufe noch ein Treiber des omnipräsent beklagten Fachkräftemangels. Diesen gibt es zwar weder flächendeckend noch berufsübergreifend – aber sehr wohl in spezifischen Regionen bei bestimmten Berufen. Das hängt aber keineswegs nur mit einem echten Mangel bei den jeweiligen Professionen zusammen. Vielmehr gibt es ein massives strukturelles Problem: Wenn Kranken- und Altenpfleger*innen lausig bezahlt werden, können sie sich die schamlos gestiegenen Mieten in den Großstädten nicht mehr leisten. Der Professional Pay Gap ist also neben der persönlichen Ungerechtigkeit auch ein Treiber dieses gesellschaftlichen Problems, das mit Corona überdeutlich wird.
Interprofessionelle Verteilungsgerechtigkeit messen
Wir müssen also die Verteilungsungerechtigkeit zwischen verschiedenen Berufsgruppen auflösen, die sich nicht zwingend innerhalb eines Arbeitgebers begegnen, sondern auch ganz unterschiedlichen Organisationen angehören können. Um die Problematik erst einmal ein wenig auszuleuchten, veröffentlichte die englische, unabhängige Denkfabrik New Economic Foundation (NEF) 2009 ihre überaus interessante Studie A Bit Rich. Die Zielsetzung liest sich dabei folgendermaßen:
In this report nef calculates the value to society of a number of different jobs and advocates a fundamental rethink of how the value of work is recognised and rewarded.
Um das zu erreichen, verglichen die Autor*innen sechs verschiedene Berufe, die über äußerst unterschiedliche durchschnittliche Einkommen verfügten. Die Methode ihrer Wahl war die Erhebung des Social Return on Investment (SROI, Sozialrendite), mit der der gesellschaftliche Mehrwert von Investitionen berechnet werden soll. Das sind typischerweise soziale Projekte oder Tätigkeiten, wie Nachbarschaftshilfe, können aber auch „Investition“ in Arbeitnehmer, sprich deren Gehälter sein. Anders formuliert: Durch die Berechnung des SROI wurde versucht, die jeweiligen Gehälter zu den entstandenen gesellschaftlichen Gewinnen und Verlusten in Bezug zu setzen: Was bringt jedes verdiente Pfund in einem jeweiligen Beruf der Gesellschaft und was kostet es sie?
Die Ergebnisse der Untersuchung kommt zu einem grundsätzlich wenig überraschenden Ergebnis: Das Einkommensverhältnis zwischen den Berufen, die der Gesellschaft am meisten nutzen und denjenigen, die am meisten schaden verhält sich reziprok. Sprich: Die höchsten Einkommen erzielen die Vertreter*innen derjenigen Berufe, die uns gesellschaftlich am meisten kosten. In der NEF Studie waren dies leitende Angestellte bzw. Geschäftsführer von Werbeagenturen (advertising executives) und Steuerberater. Die Verhältnisse des gesellschaftlichen Nutzens, bzw. Schadens wurde in der NEF Studie wie folgt beziffert:
Selbstverständlich sind diese Ergebnisse erstens innerhalb von Großbritannien nur Näherungswerte und zweitens nicht ohne Weiteres auf andere Länder übertragbar. Aber das allgemeine Problem, dass die Berufe mit dem größten Gemeinwohlnutzen am wenigsten Einkommen erhalten und umgekehrt, scheint mir sehr wohl generealisierbar, ähnlich, wie dies auch der amerikanische Anthropologe David Graeber in seinem Erfolgsbuch “Bullshitjobs” ausführte, in dem er als einer der Wenigen explizit auf die NEF Studie einging. Und genau deshalb sollten wir uns überlegen, wie lange wir dieses zerstörerische Spiel noch weiter betreiben. Statt eines tumben Weiter So! sollten wir über dieses Problem nachdenken und Modelle entwickeln und testen, die zu einer interdisziplinären gesamtgesellschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit führen.
Verteilungsgerechtigkeit ist vielen wichtig
New Pay wäre dann nicht mehr nur die Evolution bestehender Gehaltsmodelle innerhalb eines Arbeitgebers, sondern würde die Frage der Verteilungsgerechtigkeit auch quer zu allen Organisationen und damit viel grundlegender aufgreifen und behandeln. Das wäre übrigens im Sinne der Mehrheit der Erwerbstätigen und nicht nur eine fixe Idee von gesellschaftskritischen Menschen wie mir:
„Nichts scheint … die Menschen in Deutschland so sehr zu besorgen, wie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Wenn man sie befragt, welches Problem die Wirtschafts- und Sozialpolitik am dringendsten angehen sollte, lautet die Antwort am häufigsten: die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Im SPIEGEL-Wirtschaftsmonitor belegt dieses Thema von Anfang an ununterbrochen den ersten Platz – noch vor Fragen des Umweltschutzes.“ (Kiesselbach, J. (2020))
Etwas genauer betrachtet sieht die Lage zur Einschätzung der Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit aktuell so aus: In einer repräsentativen Umfrage von Civey im Auftrag des Spiegel konnten 5014 Bundesbürger ihre Meinung zu diesem Thema vom 14. Januar bis 03. März äußern. 74,8% waren der Auffassung, dass die Verteilung des Einkommens auf keinen Fall (47,3%) oder eher nicht (27,5%) gerecht sei. Bezüglich des Vermögens gab es eine fast identische Antwort. 50,5% finden die Verteilung auf keinen Fall gerecht und 24,3% eher nicht. Zudem ist “aus der Sicht der meisten Deutschen … die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen fünf Jahren größer geworden – wiederum sind rund drei von vier Befragten dieser Ansicht. 44 Prozent sehen sogar “eindeutig”, weitere 29 Prozent “eher” eine Zunahme.” (Diekmann, F. 2020a). New Pay ganzheitlich gedacht ist also ein Thema, was die meisten Mitbürger*innen interessieren dürfte.
Dazu gesellt sich eine weitere aktuelle Umfrage im Auftrag des Spiegels, wie Deutsche die Ungleichheit gerne bekämpfen würden (Diekmann, F. 2020b). Es handelt sich auch hier um eine repräsentative Erhebung, diesmal unter 5011 Teilnehmern in der Zeit vom 26. Februar bis 3. März 2020. Zur Auswahl standen dabei natürlich all jene Instrumente, die bislang bekannt sind und damit überhaupt in einer Umfrage erhoben werden können: Mindestlohnerhöhung, Bildungsinvestition, Vermögenssteuer, Einkommenssteuerreform, Erbschaftssteuer. Eine Option, wie sie durch die Studie der NEF schon länger vorliegt, hat sich bis heute weder in der Bevölkerung herumgesprochen, noch ist sie bis in die Sphären der politischen Spitzenämter vorgedrungen. Aber immerhin, auch mit dieser zweiten Spiegel-Studie zeigt sich in der Bevölkerung ein breiter Konsens: Erstens sind Einkommen und Vermögen ungerecht verteilt und zweitens sollte dies geändert werden.
Mit einem Instrument wie dem Social Return on Investment haben wir eine Möglichkeit, dieses Problem noch grundlegender anzugehen, als mit den bisherigen Instrumenten. Und zwar so, dass schon die Leistung eines Berufes gesamtgesellschaftlich gemessen wird und nicht einfach nur ein bloßes ökonomisches Narrativ bleibt: Wer mehr leistet, verdient mehr – genau das ist eine Mär, aber kein Faktum (Kiesselbach, J. 2020). Leistet etwa ein Müllwerker oder eine Reinigungskraft im Krankenhaus weniger, als ein Investmentbanker oder Steueranwalt oder andere hochbezahlte Arbeitnehmer*innen? Die Frage können wir uns sehr einfach beantworten: Was würde passieren, wenn wir ab sofort keine Werbeagenturen mehr hätten? Und was, wenn die Kranken- und Altenpfleger*innen den Büttel hinschmeißen würden, wenn kein Reinigungspersonal mehr in den Kliniken da wäre, und niemand, der den Müll abtransportiert?
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Brankowic, M. (2018): Wenn der Lohn das Herz bricht. FAZ
- Diekmann, F. (2020a): Bürger empfinden Deutschland als extrem ungerecht. Spiegel Online
- Diekmann, F. (2020b): So wollen die Deutschen Ungleichheit bekämpfen. Spiegel Online
- El Ouassil, S. (2020): Die Ausbeutung der Hilfsbereiten. Spiegel Online
- Fockenbrock, D.; Fröndhoff, D. (2016): Vergütung der DAX Vorstände wächst ungebrochen. Handelsblatt online
- Graeber, D. (2018): Bullshitjobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta
- Hoffmann, M. (2020a): Wieviel bin ich wert, im Vergleich zu anderen? Spiegel Online
- Hoffmann M. (2020b): Es ist völlig in Ordnung, viel Geld verdienen zu wollen. Spiegel Online
- kg (2020): Teufelskreis Gehalt: Wer sich unfair bezahlt fühlt, kann krank werden. Stern Online
- Kiesselbach, J. (2020): Leistung lohnt sich eben nicht. Spiegel Online
- Lawlor, E.; Kersley, H. und Steed, S. (2009): A bit rich. Calculating the real value to society of different professions. New Economic Foundation
- Neuhaus, C. (2020): Warum Frauen immer noch weniger verdienen als Männer. Tagesspiegel
- Pfeifer, C. (2015): Unfair Wage Perceptions and Sleep: Evidence from German Survey Data. Discussion Paper Series, IZA DP No. 9317
- Röhlig, M. (2020): “Halten Politiker uns für dumm oder sind sie zynisch?” Pflegekräfte über Applaus vom Bundestag. bento
- Statista (2020): Gender Pay Gap. Statista
Bildnachweis
- Beitragsbild: pixabay, lizenzfrei
- Knospendes Geld: Photo by Micheile Henderson on Unsplash
- Justizia: pixabay, lizenzfrei
- Website NEF: Screenshot
- Tabelle: ©Andreas Zeuch, 2020
- Bullshitjobs: Klett-Cotta
Ein sehr umfangreicher und interessanter Artikel. Aus meiner Sicht, sind die derzeitigen Verteilungen der Gehälter die Symptome von falschen Zielwerten. So lange gute und erfolgreiche Arbeit an dem daraus resultierenden finanziellen Gewinnen gemessen wird, lässt sich auch keine gerechte Verteilung erreichen. Um diese Ursache beheben zu können, muss man erkennen, wie viel ma wirklich braucht.
https://fachkraftmangel.io/blog/wie-viel-ist-genug-ein-gastbeitrag-von-coach-joerg-kuehn/
Hi Felix,
Danke fürs Feedback! Und ja: Da hast Du vollkommen Recht. Das was Du schreibst, hängt m.E. wiederum mit dem gesamten Wertekanon unserer Gesellschaft zusammen und der damit verbundenen Totalökonomisierung. Sprich: Die Leitlogik und -rationalität ist infolge des Neoliberalismus seit den 1980ern die der Ökonomie unter dem Paradigma des Homo oeconomicus. Daraus folgt dann in dieser Logik in kurzfristiger Betrachtung folgerichtig die aktuelle Bewertung von Berufen.
Denn langfristig werden da ja bis heute nicht die Folgekosten zB durch externe Kosten eingerechnet. Wir betreiben also eine ziemliche Milchmädchenrechnung.
[…] way is such a non-trivial matter that within New Work a whole new term has been developed: New Pay. Despite the picture series’ limited ability to represent the world’s complexity accurately, I […]