Sinus-Jugend-Studie: Schluss mit lustig!

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Sinus-Jugend-Studie: Wie war das damals bei Dir? Als Du noch jung warst? Ich geh mal davon aus, dass Du als Leser*in dieses Beitrags vermutlich keine 16 mehr bist, auch nicht 18 oder 20. Eher irgendwas über 30 oder sogar 40. Also ich bin 52. Und selbst trotz meines immer wieder bemerkenswert lausigen Gedächtnisses kann ich mich noch an das eine oder andere Erlebnis meiner Jugend erinnern. Und ganz ehrlich: Ich habe mir da nicht vorwiegend Sorgen gemacht. Ich genoss das, was allen Kindern und Jugendlichen zuteil werden sollte:

Das Privileg der Jugend. Eigentlich.

Das Leben unbedarft genießen, Neuland entdecken, andere Menschen, Regionen, Länder, Musik, Freizeit; sich selbst erkunden, von den Eltern abgrenzen, abhängen und chillen, Unfug und Schabernack treiben (hab ich reichlich gemacht, wird lustig, wenn das meine Söhne in ähnlichem Umfang treiben sollten), und so weiter und so fort. Also nochmal: Versuch Dich kurz zu erinnern, vielleicht nimmst Du Dir sogar einen Moment Zeit, bevor Du weiter liest… — Nein, natürlich war nicht alles immer rosig, keine Frage. Und einzelne der vor den Generationen Y und Z Geborenen, also grob vor 1980, hatten sicherlich auch hie und da eine harte Jugend, ein mieses Elternhaus, oder gar keines, hatten schwere Krankheitsfälle in der Familie oder waren sogar selbst gesundheitlich schwer angeschlagen.

Sinus-Jugend-Studie - Großdemo 1981
Friedensdemo 1981 in Bonn

Was die politische Großwetterlage anging, gab es sehr wohl auch früher schon Entwicklungen, die einem die Laune verhageln konnten bis hin zu ernsthaften Sorgen und Ängsten. Da war zum Beispiel die nicht unerhebliche Bedrohung durch eine globale nukleare Eskalation. Ich wuchs von 1972 – 1992 in Bonn auf und hatte seinerzeit die große Friedensdemonstration 1981 auf der Bonner Hofgartenwiese mitbekommen. Immerhin waren damals rund 300.000 Menschen vor Ort, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Das waren deutlich mehr, als bei der großen F4F Demonstration am 20.09.2019 in Berlin. Offiziell waren es 100.000, laut F4F 270.000, also vermutlich irgendwo dazwischen. Der große Unterschied indes: bei F4F waren wohl wesentlich mehr junge Menschen aktiv, um Ihre Sorgen kundzutun.

Hinzu kommt in meiner Biografie, dass ein großer Teil meiner Verwandtschaft jenseits des Eisernen Vorhangs lebte, denn mein Vater stammte aus dem einstmaligen Ostpreußen, meine Mutter aus Deutsch Proben in der heutigen Slowakei. Deshalb verbrachten wir die meisten Ferien im Osten, in der DDR, Ungarn, Tschechoslowakei, Polen. Ich bin mit diesem befremdlichen Gefühl aufgewachsen, was mich beschlich, wenn wir die Grenze zur DDR passierten, wenn meine Eltern und ihre Verwandten oder Freunde bei weiteren Grenzübertritten im ehemaligen Ostblock aufgrund von Spionageverdacht einer Leibesvisitation unterzogen wurden – während ich ohne irgendwas davon zu kapieren als kleiner Junge stundenlang im Auto warten musste. Und doch: Im Großen und Ganzen überwog die Leichtigkeit, mal abgesehen von den üblichen pubertären Sorgen, die aber nichts weiter als ein völlig normaler entwicklungspsychologischer Prozess sind.

Und heute? Die Sinus-Jugend-Studie 2020

Studiendesign

Unter anderem im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung hat das Sinus-Institut für Markt- und Sozialforschung 72 Jugendliche im Alter von 14-17 Jahren sehr detailliert und teils wiederholt untersucht (also die Alterskohorte, die auf die Generation Z folgt). Der Spiegel merkt zurecht an, dass die Ergebnisse zwar nicht repräsentativ sind, aber das Studiendesign ermögliche einen Einblick ins Innenleben der Jugendlichen “…so anschaulich wie bei kaum einer anderen Studie” (Spiegel: “Sinus Jugendstudie: Generation spaßbefreit”). Auf der Sinus Website wird die Studie unter anderem so beschrieben: “Das Besondere an diesen Studien ist die dichte qualitative Beschreibung der Vielfalt der Jugend in Deutschland. Zahlreiche Original-Zitate und kreative Selbstzeugnisse der Befragten sowie Fotos ihrer Wohnwelten gewähren anschauliche Einblicke in den Lebensalltag, den Wertehorizont und die Alltagsästhetik der verschiedenen jugendlichen Lebenswelten.” (Sinus Website). Davon zeugt dann auch der mit 623 Seiten sehr umfassende Studienbericht, mit Fotos, Collagen, handgeschriebenen Texten und dergleichen mehr. Was an Breite fehlt, beeindruckt dagegen durch Tiefe.

Die zentralen Forschungsfragen dabei: 

  • Was ist Jugendlichen wichtig im Leben? An welchen Werten und Prinzipien orientieren sie sich?
  • Wie gestalten sie ihre Freizeit? Welche kulturellen Vorlieben und Hobbys zeigen sich?
  • Wie blickt man in die Zukunft? Wie möchten die Jugendlichen später leben?
  • Welche Hoffnungen, Ängste und Sorgen haben sie?
  • Welche Vorbilder hat die Jugend heute? Hat sie auch Vorbilder aus den Bereichen Sport, Gesundheit und Politik?
  • Wie wichtig sind Mode und Marken, und wie würde man den eigenen Style beschreiben? (Calmbach, M. 2020: 17)

Dazu wurden die Teilnehmer*innen 2 Stunden und 15 Minuten befragt. In der diesjährigen Studie belief sich der Anteil “Welt der Politik” auf 50 Minuten und “Politik in der Welt” auf weitere 5 Minuten. Damit umfasste dieser Themenbereich fast 41% der Befragungszeit und satte 164 Seiten des Berichts. Weitere Themenblöcke waren Lebenswelt (30 Minuten), Gesundheit (20 Minuten), Sport (15 Minuten), Berufswahl (5 Minuten) und Schule (10 Minuten). Insbesondere der Themenblock “Welt der Politik” war mit den jeweiligen Unterthemen sehr ausführlich: Politikwahrnehmung und -verständnis, Themen/Prioritäten/Probleme, Rollenbilder von Politiker*innen, Vertrauen in letztere und Institutionen, Ästhetik von Politik, politische Partizipation, politische Berührungspunkte und deren Vertrauenswürdigkeit, politische Fernweh-/Videoformate und Flucht/Migration/Asyl/Integration.

Die Datenerhebung bestand dabei aus folgenden Elementen:

  • 72 qualitative Einzelexplorationen
  • Leitfadengestütztes narratives Telefoninterview (Dauer circa 30 Minuten) mit 50 der Jugendlichen (= knapp 70%)
  • 6 qualitative Peer-to-Peer-Interviews

Dazu kam noch eine “Inhome-Lebensweltexploration”:

  • schriftliche Dokumentationen, die die Jugendlichen im Vorfeld der Interviews bearbeiteten (im Folgenden Hausarbeitshefte genannt)
  • leitfadengestützten Face-to-Face-Explorationen bei den Jugendlichen zu Hause (Dauer circa 90 Minuten, Befragung in den Zimmern der Jugendlichen)
  • fotografischen Dokumentationen der Wohnwelt der Jugendlichen
  • Foto-Voicings zu den Themen „Orte, an denen ich Sport treibe bzw. mich bewege“ und „sich wohlfühlen“ (a.a.O.: 22)

Ergebnisse

Die Ergebnisse fassen die Forscher des 623 Seiten umfassenden Studienberichts komprimiert auf drei Seiten zusammen (565-568). Dabei bringt vor allem ein Absatz die aktuellen Ergebnisse besonders gut auf den Punkt:

Die Jugendlichen betrachten die Welt und ihre Probleme ernsthaft und realistisch, sind aber gleichzeitig – anders als das überkommene Bild von jugendlichem Aufbruch und Überschwang – sehr besorgt und mitunter sogar ängstlich. Fast scheint es, als sei der Jugend der Spaß abhandengekommen.

Sinus-Jugend-Studie - Milieus
© Sinus-Jugend-Studie

Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts folgen die Themenfelder, die mit diesem eben zitierten Stimmungsbild zusammenhängen, wie die Wertewelten und die Wahrnehmung von Politik und gesellschaftlichen Problemen. Weitere, äußerst interessant Themen sind Berufswahlprozesse oder das Wohlbefinden und Partizipation in der Schule. Gerade diese beiden Themen sind im Kontext Neuer Arbeit äußerst interessant, machen allerdings zunächst mal ein anderes Fass auf.

Die Wertewelten der Jugendlichen umfasst insgesamt 37 verschiedene Werte. Neben naheliegenderweise bildungs- und lebensweltspezifischen Werten gibt es doch auch einen gemeinsamen Wertekanon (bestehend aus 7 Werten), der quer zu allen Milieus liegt (in alphabetischer Reihenfolge, kein Ranking: Altruismus, Familie, Freunde, Leistung, Selbstbestimmung, Toleranz und Treue. Laut Studienautor*innen zeigt sich in den Werten Familie, Freunde und Treue der Wunsch nach Geborgenheit, Halt und Orientierung. Soweit nachvollziehbar, vor allem in einer Welt, die zunehmend komplexer und dynamischer und somit unvorhersehbarer wird. In der Breite gehe es den Jugendlichen des Weiteren “… nicht um ein Leben in Saus und Braus, sondern primär um materielle Absicherung.” (a.a.O.: 33) Das passt schlüssig zu der Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit bzw. dem Gleichheitsprinzip, einem Wert, “… der zwar selten explizit so benannt wird, der aber den Erzählungen Jugendlicher über wichtige Dinge im Leben zugrunde liegt.” (ebnd.) Problematisch dürfte es für die Jugendlichen werden, wenn sie feststellen, dass Leistung und Wohlstand, bzw. materielle Absicherung eben keineswegs gerecht miteinander verbunden sind, Stichwort Pflegeberufe (vgl. dazu New Pay – ganzheitlich gedacht)

Durch die Befragung zur Welt der Politik wurden einige Themen deutlich, die den Befragten Sorgen machen. In der globalen Politik sind die wichtigsten Themen Klimawandel/Naturschutz (sowohl bei bildungsfernen als auch -nahen Jugendlichen), Krieg vs. Frieden und Migration. In der Innenpolitik dominieren Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Urheberrecht. Naheliegender Weise sind die Jugendlichen weder mit der Klima- und Umweltpolitik noch der zu Armut und sozialer Ungerechtigkeit zufrieden (vgl. S. 413). Über diese inhaltlichen Themen hinaus beklagen die Jugendlichen vor allem “… die als zu gering angemahnte Teilhabe der jungen Generation an politischen Entscheidungsprozessen sowie die mangelnde Repräsentation von Jugendlichen und ihren Anliegen im politischen Raum.” (a.a.O.: 410) Vor dem Hintergrund unserer politischen Landschaft (indirekte parlamentarische Demokratie, Wahlalter, demografische Struktur professioneller Politiker*innen) ist dies nicht nur verständlich, sondern eine treffliche Einschätzung infolge unserer geringen Möglichkeiten direkter zivilgesellschaftlicher Mitgestaltung, wie beispielsweise durch losbestimmte Bürgerräte.

Bedenklich ist vor allem die Verteilung des Vertrauens im Kontext Politik: Das größte Vertrauen genießen die Stadt-/Gemeindeverwaltung, Polizei und Krankenkasse, gefolgt von mittlerem Vertrauen (Agentur für Arbeit, Bürgerinitiativen, Gerichte/Justiz, Kirchen, Bundestag/Parlament), geringes Vertrauen (EU, Rentenversicherung, Regierung) und kaum Vertrauen (politische Parteien). Interessant sind dabei vor allem die extremen Pole. Das kommunale Verwaltungen, Polizei und Krankenkassen die vertrauenswürdigsten Institutionen sind, während nur den politischen Parteien kaum Vertrauen entgegengebracht wird. Letzteres führt in der Zukunft wohl kaum dazu, dass sich die Wahrnehmung der politischen Sphäre verbessert. Und ist mir persönlich zugleich überaus verständlich, alldieweil sich erstens in den letzten Jahren die ehemaligen Volksparteien in weiten Teilen selbst demontieren und zweitens durch die Wahl von Parteien die gesellschaftlich-politische Teilhabe äußerst begrenzt ist. Hinzu kommen noch aktuelle Entwicklungen wie der Wirecard-Skandal, dessen Entstehen unter anderem durch das viel zu inkonsequente Vorgehen der Bafin ermöglicht wurde (vgl. Kaiser, S. (2020): “Die Leute haben das Gefühl, der Staat ist nicht mehr für mich da.“)

Insgesamt fassten die Forscher am Ende des Berichts vier zentrale Erkenntnisse zusammen:

  1. “Viele Jugendliche sind heute ernst und problembewusst. Die ehemals so jugendtypische hedonistische Mentalität ist weiter auf dem Rückzug und wandelt sich: Jugendliche Lifestyleszenen, Party, Fun und Action verlieren an Bedeutung. … Weitere Sorgen, die immer wieder angesprochen werden, beziehen sich auf den erlebten Leistungsdruck (in der Schule, in der Arbeitswelt); auf den notorischen Zeitmangel, unter dem man leidet… ” (a.a.O.: 565f)
  2. “Sicherheit, Halt und Geborgenheit sind für die meisten wichtiger als Aus- und Umbrüche. Zu den wichtigsten Werten, die in allen jugendlichen Lebenswelten gelten, zählen – neben Leistung und Selbstbestimmung – soziale Geborgenheit und Loyalität sowie altruistische Werte wie Hilfsbereitschaft und Toleranz.Vorbilder kommen oft aus der eigenen Familie; insbesondere die Mütter werden als starke Frauen bewundert (von Mädchen und Jungen).” (a.a.O.: 566)
  3. “Negative Folgen der Individualisierung treten stärker ins Bewusstsein. … Jugendlichen beklagen eine „Jeder-für-sich“-Mentalität und fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft. … Es breiten sich Zweifel aus am Wachstumsglauben, an der wirtschaftlichen Steigerungslogik und an der Ökonomisierung des Lebens.” (a.a.O.: 566f)
  4. “Die Jugend fühlt sich zuwenig gehört und nicht ernst genommen. … Viele Jugendliche haben das Gefühl von Macht- bzw. Einflusslosigkeit und die Überzeugung, als Minderjährige nichts ausrichten zu können, im Zweifel nicht einmal gehört zu werden.” (a.a.O.: 567) Das liegt vor allem an der mangelnden Teilhabe und Repräsentation im professionellen Politikbetrieb.

Zusammenfassung: Ein weiterer Warnschuss

Die Ergebnisse lesen sich wie ein weiterer Warnschuss an uns Erwachsene, diejenigen, die jetzt in der Verantwortung für die kurz-, mittel- und langfristige Gestaltung der Zukunft stehen. Wir haben schon genug vergeigt in den letzten Jahrzehnten, was in der Umwelt- und Mobilitätspolitik besonders deutlich wird. Nun sollten wir noch die demokratische Grundlagen verspielen. Die Jugendlichen schätzen die mangelnde demokratische Teilhabe sehr gut ein. Zu viele Erwachsene haben sich längst eingerichtet in einer lethargischen Teilnahmslosigkeit und Laisser-faire Haltung hinsichtlich ihrer politischen Mitgestaltung. Unsere Kinder sollten wieder mehr Gründe zum Lachen und ein paar Sorgen weniger haben. Kurzum:

Die Sinus-Jugend-Studie 2020 zeigt wie dringend nötig es ist, sowohl auf der inhaltlichen Ebene (politische Fachthemen Umwelt, Mobilität, Migration…) als auch auf der strukturellen Ebene (Schaffung von mehr und besseren Beteiligungsverfahren, Wirtschafts- und Unternehmensdemokratie) tätig zu werden. Das sind wir unseren Kindern schuldig.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Literatur

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Heather Mount, Unsplash, lizenzfrei
  • Friedensdemo Berlin: ©Rob Bogaerts, CC0

 

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