Arbeit als Demokratielabor

thisisengineering-raeng-mF6gB6hV5OU-unsplash

Demokratielabor: Nun ist es schon mehr als eine halbe Dekade her, dass ich mein letztes Buch “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten” veröffentlicht habe. Seinerzeit war das dritte Kapitel für mich der konzeptuelle Kern, das, wofür mein Herz bis heute schlägt. Dieses Kapitel ist die Vorlage für den heutigen Blogbeitrag. Denn ich habe mich aus verschiedenen Gründen entschieden, dieses Kapitel hier in weiten Teilen aus Auszug erneut zu publizieren. Das hängt aktuell damit zusammen, dass meine damalige Idee langsam anfängt erste kleine Früchte zu tragen.

»Wie soll sich eine demokratische Gesellschaft entwickeln, wenn die Ökonomie als Definitionszentrum heutiger Gesellschaft undemokratisch organisiert ist?« Bernhard Mark-Ungericht

Das bringt das Spannungsfeld gesellschaftlicher Demokratie und unternehmerischer Verfassungen gut auf den Punkt. Müssen also Unternehmen demokratisch organisiert werden, um unsere gesellschaftliche Demokratie weiterzuentwickeln? Das ist eine Frage, die viel Staub aufwirbeln könnte. Auch wenn sie nicht einfach zu beantworten ist, so ist doch eines klar: Unsere gesellschaftliche Demokratie ist das, worauf wir stolz sind. Wer möchte schon freiwillig in einer Tyrannei oder Oligarchie leben, sofern man nicht selbst der Alleinherrscher ist oder zur Klasse der Regierenden gehört? Zudem ist Demokratie perverserweise das Produkt einiger angeblich demokratischer Gesellschaften, das mit größtem Gewalteinsatz exportiert werden soll.

Die alte neue Krise der Demokratie

Prof. Dr. W. Merkel spricht zwar nicht über ein Demokratielabor aber über eine mögliche Krise
Prof. Dr. Wolfgang Merkel

Gleichzeitig diskutieren wir breitflächig eine Krise der Demokratie. Ob es diese Krise gibt, ist fraglich, wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel 2013 in einem lesenswerten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen schrieb. Vielleicht wird einfach nur über eine Krise diskutiert, ohne dass es sie wirklich gibt. Schließlich resümierte nicht nur Marion Gräfin Dönhoff schon die »Krise der Demokratie« – und zwar 1968. Ob es diese Krise nun gibt oder nicht, liegt Merkels Analyse nach vor allem an den drei großen und in ihren Forderungen unterschiedlichen Demokratietheorien: minimalistische, mittlere und maximalistische Theorie. Aber auch er arbeitet dreierlei als faktisch gegeben heraus: erstens den permanenten und deutlichen Rückgang der Wahlbeteiligung, zweitens die Krise der Repräsentation durch die Parteien und drittens eine Verlagerung wichtiger Entscheidungen auf »deregulierte Märkte, globale Firmen, Großinvestoren, weltumspannende Banken, finanzstarke Lobbys und supranationale Organisationen und Regime«.

Schlussendlich kommt Merkel zu dem Ergebnis, dass Regieren über den Nationalstaat hinaus »nicht nur anders und komplexer, sondern auch weniger demokratisch sein wird«.

Das deckt sich mit einem ebenso differenzierten Artikel von Hubert Kleinert, Professor für Politik und Verfassungsrecht, vom September 2009, der mit einem ähnlichen Ausblick schließt: »Unübersichtlichkeit und Fragmentierung werden zunehmen. Ob das im Ergebnis die Demokratie als Selbstregierung des Volkes wirklich stärken wird, kann durchaus bezweifelt werden.«30  Beide Argumentationslinien erscheinen nachvollziehbar und überzeugend. Vor allem ist das Problem der rückläufigen Wahlbeteiligung bei eindeutig ungleicher Verteilung des politischen Engagements nach sozialen Schichten alles andere als ein Garant für eine dauerhaft stabile Gesellschaft. Allerdings müssen wir uns wohl auch eingestehen, dass das Ausfüllen von Wahlzetteln das tägliche Leben von Wählern nicht wirklich zu betreffen scheint. Dafür sind die politischen Programme erstens zu komplex und werden zweitens nach der Wahl dem Diktat realpolitischer Durchsetzbarkeit geopfert – meistens jedenfalls.

Und genau hier setze ich mit der Idee von Arbeit als Demokratielabor an: Wenn wir Demokratie wirklich wollen, wenn wir gesamtgesellschaftlich keine Monarchie, Tyrannei oder Oligarchie wünschen, dann bietet sich die Möglichkeit, unser tägliches Schaffen endlich demokratisch zu gestalten – und auf diesem Weg Demokratie neu zu beleben und weiterzuentwickeln. Es ist doch überaus offensichtlich, dass genau der Lebensbereich, in dem wir fast alle täglich eingebunden sind, ein großartiges Feld ist, um Demokratie neu zu beleben. Wir arbeiten 30 bis 40 Jahre, meist zwischen 20 und 40 Wochenstunden. Das bietet Tausende Alltagsmöglichkeiten. Lebenslanges Lernen kann hier einen gesamtgesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gleichzeitig individuellen Nutzen entfalten. 

Demokratie neu (oder überhaupt) verstehen

Wissen wir eigentlich überhaupt noch, was Demokratie bedeutet? Welchen Wert es hat, die eigene Regierung wählen und abwählen zu können; das Schicksal im weitesten Sinn selbst in die Hand nehmen zu können, indem wir das direkte und indirekte Umfeld mitgestalten? Wissen wir um die Verantwortung, die diese Möglichkeit beinhaltet? Wissen wir, das unsere Rechte auch mit teils juristischen, teils ethischen Pflichten einhergehen? Wissen wir, welche Kompetenzen die demokratische Mitgestaltung erfordert? Ist uns klar, was wir wirklich mitgestalten wollen und was uns egal ist? Wo liegen unsere Leidenschaften der Mitgestaltung? Sind wir ein gutes Vorbild für unsere Kinder und folgende Generationen?

Die meisten von uns wuchsen in unserer aktuellen Demokratie auf. Zunehmend weniger Menschen in unserer Gesellschaft machten die fürchterlichen Erfahrungen eines totalitären Systems. Glücklicherweise. Allerdings sind vielen von uns offenbar die wunderbaren Möglichkeiten der Demokratie längst nicht mehr bewusst oder erst gar nicht bewusst geworden. Wir halten zu viel für selbstverständlich. Daraus resultierend verkennen wir gleichgültig, was eine gelungene Demokratie bedeutet. Wir ignorieren, welche Chancen und Risiken in ihr liegen, welche Rechte sie uns gibt und welche Pflichten sie dafür einfordert. Es bedarf eines neuen (Selbst-)Verständnisses, in dieser Gesellschaftsform leben zu dürfen. Wenn unser gesellschaftspolitisches Privileg nicht verkümmern soll wie eine ungegossene Zimmerpflanze, müssen wir es hegen und pflegen. Es bedarf der tiefen emotionalen und rationalen Einsicht, dass alles, was wir dürfen und können, ohne um unser Leben bangen zu müssen, in keiner Weise gewöhnlich ist.

Demokratische Selbsterfahrung sammeln

Das Kanzerlamt ist kein Demokratielabor
Demokratie findet nicht nur im Kanzleramt statt!

Die meisten von uns brauchen mehr Selbsterfahrung mit den Möglichkeiten demokratischer Mitgestaltung. Mit Glück erleben wir Demokratie zuerst in unseren Herkunftsfamilien, wurden dort eingeladen, Entscheidungen mitzutreffen, wurden dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen. Vielen jedoch ist diese fundamentale Erfahrung verwehrt geblieben. Die Familie als »Agent der Gesellschaft« funktioniert nur eingeschränkt, sicher nicht breitflächig. Also sammelten viele von uns – wenn überhaupt – demokratische Selbsterfahrung in Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Aber auch da gab und gibt es längst nicht überall die Chance auf solche Erfahrungen. Vielleicht sogar eher das Gegenteil. Das beginnt bekanntermaßen mit den Lehrplänen der Schule und geht dann in Berufs-, Fachhochschulen und Universitäten so weiter. Leistungskurse und Studienfächer frei wählen zu können reicht nicht, um demokratisch reif zu handeln.

»Demokratie ist anstrengend«, Ricardo Semler

Doch die Ergebnisse entlohnen und rechtfertigen den Aufwand. Genau diese Erfahrung müssen wir machen. Und zwar so oft, dass sich daraus ein stabiles Muster aus Wahrnehmen, Denken und Handeln ergibt. Ansonsten brechen wir bei den ersten Widrigkeiten ein und wünschen uns zurück in die gute alte Zeit, in der es klare Ansagen vom Chef gab und wir keine Verantwortung zu übernehmen brauchten. Zeiten, in denen wir uns lässig zurücklehnen konnten ohne die manchmal nervigen Auseinandersetzungen mit anderen Sichtweisen, Ideen, Wünschen, Bedürfnissen, Zielen und so weiter und so fort. Wir müssen ein stabiles Fundament an demokratischer Selbsterfahrung aufbauen. Das braucht Zeit. Genau das wird unter anderem in der mittlerweile vier Jahrzehnte währenden Unternehmensdemokratie der Hoppmann Autowelt deutlich (vgl. Zeuch, A. (2015): 89–105). Demokratie lässt sich nicht von heute auf morgen installieren wie ein neues Softwareprogramm. In einem Unternehmen sind viele unterschiedliche Menschen beteiligt, und das bedeutet mitunter aufwendige und zeitintensive Lernprozesse. Eben so lange, bis sich das neue Muster stabilisiert hat.

Ein zentraler Aspekt der Lernprozesse ist ein hohes Maß an Selbstreflexion: Wann, wo und unter welchen Bedingungen machen demokratische Prozesse Spaß? Wann beginnen sie mich zu nerven? Mit welchen Kollegen fällt es mir leicht, mit welchen weniger, mit welchen sehr schwer, in demokratische Prozesse einzutreten? Welche meiner Werte, Grundannahmen, Glaubenssätze sind hilfreich, welche nicht oder sogar zerstörerisch? Und letztlich: Wie demokratisch will ich eigentlich mein (Berufs-)Leben gestalten? Will ich vielleicht doch lieber ganz alleine entscheiden? Wenn ja, warum? Bin ich dann bereit, die Konsequenzen zu ziehen und mich selbständig zu machen, vielleicht selbst ein Unternehmen zu gründen? Oder gibt es vielmehr eine Sehnsucht, als Team, vielleicht sogar als ganze Belegschaft gemeinsam zu entscheiden und zu gestalten? Wie geht es mir, wenn ich genau diese Sehnsucht spüre?

Ich hege keinen Anspruch, hier auch nur näherungsweise relevante Fragen der Selbsterfahrung abzubilden. Es soll nur ein Impuls sein zum eigenständigen weiteren Nachdenken. Es ist der Anfang einer Reise.

Demokratische (Selbst-)Wirksamkeit entdecken

Ohne Selbstwirksamkeitserwartung ist aller Anfang schwer.

In der Psychologie gibt es das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung. Damit ist die Erwartung eines Menschen gemeint, aufgrund eigener Kompetenzen Aufgaben und Probleme zu lösen, insbesondere auch gegen Widerstände. Dazu gehört die Überzeugung, die Außenwelt zielgenau beeinflussen zu können, anstatt sich von äußeren Umständen wie Glück oder Zufall abhängig zu machen. Im psychologischen Fachjargon entspricht dies der Selbstzuschreibung im Unterschied zur Fremdzuschreibung. Verschiedene Experimente und Studien konnten immer wieder zeigen, dass Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung, also dem Glauben an die eigene Wirksamkeit, tatsächlich erfolgreicher in ihrer Ausbildung und im Berufsleben sind, ein höheres Durchhaltevermögen bei Aufgabenbewältigung aufweisen und weniger anfällig für Angststörungen und Depressionen sind. Das sind offensichtlich Effekte, die für eine gesunde, leistungsfähige und -willige Belegschaft wichtig sind.

Zudem wird zwischen allgemeiner und spezifischer Selbstwirksamkeitserwartung unterschieden: Die allgemeine beschreibt eine zu allen spezifischen Kompetenz- und Handlungsbereichen querliegende Selbstwirksamkeitserwartung. Sie beschreibt eine durchschnittliche Wirksamkeitserwartung eines Menschen. Die spezifische meint dementsprechend die Selbstwirksamkeitserwartung in einem bestimmten Bereich. Eben deshalb wäre es sinnvoll, die Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf demokratische Prozesse in den Fokus zu nehmen und vor allem: zu verbessern. Denn genau das ist es, was vielen, vielleicht zunehmend mehr Menschen abhandenkommt: das Gefühl, mit eigenen Handlungen in unserer Demokratie etwas zu bewirken. Das liegt sicherlich an den vielen äußerst komplexen Themen, die Millionen Menschen im gesamtgesellschaftlichen Demokratieprozess bearbeiten. Es ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit, dass da die eigene Stimme Wirkung entfaltet.

Genau deshalb ist es sinnvoll, die demokratische Selbstwirksamkeitserwartung im praktischen alltäglichen Schaffen bei der Arbeit neu zu entdecken. Jedes Unternehmen, und sei es noch so groß, ist im Vergleich zur Gesellschaft deutlich überschaubarer. Außerdem ist jede Organisation wiederum in viele kleinere Bereiche unterteilt, in denen demokratische Gestaltungsprozesse erprobt und geübt werden können. Das kann im eigenen Team beginnen, das nur aus wenigen Personen besteht, und kann sich allmählich ausdehnen bis hin zu komplexeren Teilmengen wie Abteilungen und Bereichen. Das Fallbeispiel der ThyssenKrupp Rasselstein GmbH illustriert die Demokratisierung in Teilbereichen anhand der selbstbestimmten Entwicklung eines beruflichen Gesundheitsmanagements (vgl. a.a.O.: 162–176). Unternehmen und Organisationen bieten eine hervorragende Möglichkeit, die demokratische Selbstwirksamkeit zu entdecken und zu entwickeln. Ein erwünschter Nebeneffekt liegt darin, dass mit den Jahren eine insgesamt höhere Selbstwirksamkeitserwartung der Mitarbeiter und Führungskräfte erreicht wird. Denn die Erfolge der spezifischen demokratischen Selbstwirksamkeitserwartung strahlen auf die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung aus. Damit kann die Belegschaft langfristig mehr Erfolge bei der Arbeit verwirklichen.

Demokratielabor: Zentrale Bereiche des eigenen Lebens mitgestalten

Arbeit kann und sollte tägliches Demokratielabor sein

Der große Vorteil von Arbeit als Demokratielabor besteht darin, dass die tägliche Arbeit fast alle von uns betrifft. Das äußert sich ganz praktisch im Gefühl, mit dem wir morgens aufwachen und zur Arbeit fahren: Ist da Freude, Langeweile, Angst, Widerwille, Hass? Freust Du Dich am Sonntagabend schon auf die nächste Arbeitswoche, darauf, Deine Kolleg*innen wiederzusehen, gemeinsam weiterzuarbeiten, oder ist es genau umgekehrt, dass Du schon am Montagmorgen den Freitagnachmittag sehnsüchtig erwartet, damit die Woche endlich wieder rum ist? Oder pendelt sich Deine Gefühlswelt irgendwo dazwischen ein?

Bei der Arbeit gibt es die vielen kleinen und die wenigen großen Dinge, die wichtig sind, um dort ein positives Grundgefühl zu erzeugen. Beides, die operativen wie strategischen Entscheidungen und Gestaltungsfragen, sind damit zentrale Bereiche des eigenen Lebens. Hier kannst Du zwar sagen, dass es Dich nicht interessiert bist, aber keineswegs, dass es Dich nicht betreffen würde. Das Maß unserer emotionalen Verbundenheit mit dem Arbeitgeber, unsere Gesundheit und Motivationslage bezeugen unsere Betroffenheit. Es verhält sich genauso, wie mit dem Watzlawick’schen Kommunikationsparadigma: Arbeit kann uns nicht nicht betreffen. Selbst Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Arbeit und dem Arbeitgeber ist eine Aussage über die Betroffenheit. Und natürlich auch über die Motivation und damit den Leistungswillen.

Demokratie, demokratisches Handeln und demokratische Kompetenzen können bei der Arbeit besonders gut erprobt und verbessert werden, weil erstens die direkte Betroffenheit gegeben ist und zweitens die Komplexität deutlich geringer ist als in gesamtgesellschaftlichen Demokratieprozessen. Selbst dann, wenn es nicht bloß um Entscheidungen im eigenen Arbeitsbereich geht, sondern sogar um die Wahl einer neuen »Regierung« wie der Wahl von Führungskräften in verschiedenen Unternehmen geht (ohne dass ich Führungskräftewahlen besonders sinnvoll finde). Es ist also möglich, Demokratie im Unternehmen zu üben, wenn man es will.

»Unternehmen sind keine demokratische Veranstaltung.« Bis hierher habe ich diese Phrase mit der Frage quittiert: Warum eigentlich nicht? In den bisherigen Kapiteln habe ich versucht, Antworten zu geben, und neue Fragen aufgeworfen. Durch diesen Denkprozess fällt meine Reaktion jetzt anders aus: Richtig, Unternehmen sind leider keine demokratische Veranstaltung. Aber sie sollten es sein. Damit würden nicht nur diverse Vorteile des Empowerments nutzbar, sondern Arbeit würde ganz nebenbei zum Demokratielabor.

Wissenschaftliche Ergebnisse

Arbeit als Demokratielabor in einer kommenden Barcamp-Session reflektieren.

Meine bisherigen Überlegungen sind dem gesunden Menschenverstand entsprungen. Wissenschaftler würden sagen: Die angedeuteten Auswirkungen unternehmerischer Demokratie sind »augenscheinvalide«, haben also dem Augenschein nach Gültigkeit. Das ließe sich mit Fug und Recht kritisieren, schließlich muss nicht allgemein gültig sein, was mir offensichtlich erscheint. Allerdings gibt es bereits seit den 1970er Jahren Studien, die sich mit den Auswirkungen organisationaler Demokratie auf das Arbeits- und Alltagsleben der Mitarbeiter befassen.

Direkte Mitentscheidung, die in Form selbstbestimmter Arbeitskontrolle umgesetzt wird, fördert politisches, kulturelles und gewerkschaftliches Engagement (Karasek 2004).

Direkte Demokratie am Arbeitsplatz und in Arbeitsgruppen stärkt ebenso gesellschaftliches wie kulturelles Engagement (Elden 1980). Die Kombination aus teilautonomer Gruppenarbeit und repräsentativer Mitbestimmung fördert politische Selbstwirksamkeit, arbeitspolitisches Interesse und senkt das Stresserleben (Gardell 1983). Direkte Mitentscheidung fördert politisches Wirksamkeitserleben und Engagement (Greenberg et al. 1996).

Direkte Entscheidungspartizipation übt positiven Einfluss auf organizational citizenship behaviour aus, fördert also zusätzliches Engagement über arbeitsvertragliche Regelungen hinaus (Goletz 2001). Länder mit einem höheren Maß an partizipativer Führung weisen weniger Korruption und Unruhe auf als Länder mit geringerer Mitarbeiterpartizipation in Unternehmen (Spreitzer 2007). Demokratienahe Führungsstile wie transformationale Führung stehen in engem Zusammenhang mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Mitarbeiter (Rigotti et al. 2014).

Auf einigen dieser Ergebnisse baut eine besonders interessante Untersuchung auf: die ODEM-Studie »Organisationale Demokratie – Ressourcen für soziale, demokratieförderliche Handlungsbereitschaften«. Wolfgang G. Weber, Professor für angewandte Psychologie der Universität Innsbruck, untersuchte im Rahmen des österreichischen Forschungsprogramms »New Orientations for Democracy in Europe« die Auswirkung von Unternehmensdemokratie auf die Arbeit und das Alltagsleben der Studienteilnehmer. Dazu wurden insgesamt 631Arbeitnehmer aus 24 demokratischen Unternehmen für die Hauptstichprobe und aus 13 klassisch hierarchisch organisierten Unternehmen für die Vergleichsstichprobe befragt. Die Unternehmen stammten aus Österreich, Süddeutschland, Norditalien und Liechtenstein. Darüber hinaus gab es eine weitere Stichprobe mit 327 Mitarbeitern aus sechs israelischen Unternehmen. Im Rahmen dieser Studie wurden Effekte gefunden, die eine Bestätigung und Erweiterung der bisherigen Ergebnisse darstellen:

Unternehmen mit demokratischen Organisationsformen und Unternehmenskulturen führen zu

  • höherer Solidarität am Arbeitsplatz,
  • verstärktem Hilfeverhalten am Arbeitsplatz,
  • stärkerer emotionaler Bindung an das Unternehmen.

Im Leben jenseits der Arbeit führen Unternehmensdemokratien zu

  • höherer sozialer Verantwortung,
  • höherem demokratischen und gesellschaftlichen Engagement,
  • höherer Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf eine gerechte Welt und
  • einer stärkeren humanistischen Ethik.

Dabei gab es noch ein deutliches Verhältnis zwischen dem Maß der Ausprägung an Demokratie im Unternehmen und den dadurch hervorgerufenen Effekten. Zusammengefasst kann festgehalten werden: Je demokratischer die Organisationsstrukturen, desto

  • prosozialer, solidarischer und sozial verantwortlicher handeln die Mitarbeiter,
  • höher ist das Ethikbewusstsein,
  • größer ist das demokratische und gesellschaftliche Engagement,
  • stärker ist die Identifikation mit dem Unternehmen.

Kritisch ist anzumerken, dass die bisherigen Untersuchungen lediglich sogenannte Querschnittsstudien sind. Daraus folgt die methodische Einschränkung, dass die aufgeführten Zusammenhänge im streng wissenschaftlichen Sinn nicht als eindeutig kausale Wirkungen belegt sind. Davon ausgenommen ist nur die aufwendige Längsschnittstudie von Karasek (1978 und 2004). Allerdings wäre es ausgesprochen überraschend, wenn sich bei den bereits vielfach gezeigten Zusammenhängen keinerlei Kausalität zeigen ließe. Denn einerseits wurde bereits in vielen Studien der Zusammenhang nachgewiesen und teilweise durch die eben erwähnte Längsschnittuntersuchung als Kausalzusammenhang belegt. 

Somit sind die Gedankengänge über Demokratieverständnis, demokratische Selbsterfahrung, Selbstwirksamkeit und Lebensgestaltung sowie zur Wiederbelebung von Demokratie nicht aus der Luft gegriffen. Mit den bisherigen Studien konnten überzufällige positive Effekte auf das (Arbeits-)Leben aufgezeigt werden. Das, was der gesunde Menschenverstand sagt, hält der bisherigen wissenschaftlichen Prüfung stand. Wolfgang Weber und seine Kollegen fassen die Ergebnisse ihrer Studie bescheiden zusammen: »Je stärker Beschäftigte berichten, an operativen, taktischen und strategischen Entscheidungen in ihrem Unternehmen zu partizipieren, desto stärker weisen sie gemeinwesenbezogene Wertorientierungen auf, die sich durch humanistische Werte, Bereitschaft zu kosmopolitischem und demokratischem Engagement auszeichnen. … Die Praxis demokratischer Unternehmen, wie derjenigen aus unserer Stichprobe, verleiht ein klein wenig Hoffnung, dass Unternehmen im Zusammenwirken mit vielen weiteren Institutionen der Zivilgesellschaft (zum Beispiel Familien, Kindergärten, Schulen, Vereinen, Universitäten) ein Ort sein können, die demokratische Gesellschaft zu bewahren und zu verteidigen.« 

In meinen Worten: Arbeit kann tatsächlich erfolgreich als Demokratielabor genutzt werden. Und genau das kannst auch Du in der Session “Arbeit als Demokratielabor” am Freitag, den 26.03.21 im Partizipations-Innovations-Camp mit anderen Menschen und mir diskutieren. Ich würde mich freuen, Dich dort zu begrüßen.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Literatur

  • Elden, M. (1980): »Autonomy at work and participation in politics«. In: Cherns, A. (Hrsg.): Quality of Working Life and the Kibbutz Experience. Norwood, PA, S. 230–256
  • Gardell, B. (1983): »Worker participation and autonomy: a multi-level approach to democracy at the work place«. In: Crouch, C.; Heller, F. A. (Hrsg.): Organizational Democracy and Political Processes. International Yearbook of Organizational Democracy. Bd. 1. Chichester: John Wiley & Sons, S. 353–387
  • Goletz, H.-P. (2001): Partizipation in Kleinbetrieben: Korrelate, Moderatoren und Mediatoren. Marburg: Unveröffentlichte Diplomarbeit. Universität Marburg, Fachbereich Psychologie
  • Greenberg, E.; Grunberg, L.; Daniel, K. (1996): »Industrial Work and Political Participation: Beyond Simple Spillover«. In: Political Research Quarterly 49(2), S. 305–330
  • Karasek, R. A. (2004): »Job socialization: The carry-over effects of work on political and leisure activities«. In: Bulletin of Science, Technology & Society, 24(4), 284–304
  • Rigotti, T.; Holstad, T.; Mohr, G.; Stempel, C. (2014): Rewarding and sustainable health-promoting leadership (Projekt Nr. F 2199). Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.), Dortmund, Berlin, Dresden
  • Spreitzer, G. (2007): »Giving peace a chance. Organizational leadership, empowerment, and peace«. In: Journal of Organizational Behavior, 28(8), S. 1077–1095
  • Weber, W.; Schmidt, B.; Unterrainer, C. (2007): »ODEM-Organisationale Demokratie – Ressourcen für soziale, demokratieförderliche Handlungsbereitschaften«. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur im Rahmen des Programms »new orientations for democracy in europe«
  • Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©ThisisEngineering RAEng, unsplash, lizenzfrei
  • Prof. Dr. Merkel: ©SPÖ, Presse und Kommunikation, CC BY-SA 2.0
  • Bundeskanzleramt: ©Tischbeinahe, CC BY 3.0
  • Begin: ©Danielle McInnes, unsplash, lizenzfrei
  • Teamdiskussion: ©Leon, unsplash, lizenzfrei
  • Partizipations-Innovations-Camp: Screenshot Website

 

Leave a comment

X