Gedanken zur Wahl: Agile Politik

Wahlwerbung Keine Experimente

Agile Politik: Am 04. September stolperte ich im Zuge des laufenden Wahlkampfs über Armin Laschets #Zukunftsteam. Genauer: Über das Schild, das im Hintergrund an der Wand klebte: “Experten statt Experimente.” Nein, mir ging es dabei nicht um das bei der CDU erwartbar nicht gegenderte Wort “Experten”, obwohl, und das bewerte ich durchaus positiv, das Team hinsichtlich der Geschlechterfrage perfekt austariert ist. Zu diesem Foto verfasste ich sodann einen kurzen Post bei LinkedIn, quick&dirty. Mir ging es damals und mit diesem Beitrag hier um den fundamentalen Fehler, Experimente zu diskreditieren und damit einen Politikstil fortzuschreiben, den wir uns nicht mehr erlauben können. Auch dieser Beitrag kann dabei nicht mehr als eine erste Skizze sein. Eine Hypothese, die wir testen können, um sie in folgenden Iterationen weiterzuentwickeln.

 agile Politik - einer der wenigen kritischen Kommentare, die tief in die Seele ihres Verfassers blicken lassen.
Einer der wenigen Kommentare mit Bullshit-Charakter

Ich bin bis heute erstaunt und erfreut. Dieser kleine LinkedIn Beitrag ging ziemlich schnell durch die Decke. Stand heute wurde er deutlich über 17.000 mal abgerufen, erhielt 188 Likes und wurde 83 mal kommentiert. Größtenteils gab es viel Zuspruch bis hin zu Aussagen, dass die eine oder andere zum Thema #agilePolitik sofort dabei wäre (bei was auch immer). Und natürlich gab es auch Kritik, einiges hatte Substanz, anderes deutete auf reichlich fragwürdige Einstellungen hin (“Faschistoid Hysterischer Hygienestaat”, genauso geschrieben, siehe Screenshot). Wie es eben so ist mit Social Media und kommerziellen Netzwerken, die maximal viel haltlosen Bullshit[1, Fußnoten siehe unten] über faktenfreie Behauptungen bis hin zu hart an Volksverhetzung grenzendenden Bemerkungen akzeptieren (einmal sperrte ich bei LinkedIn, also Microsoft, einen User, der medizinische Masken als neuen Judenstern bezeichnete und meldete ihn der Redaktion. Antwort: Sie erkennen keinen Verstoß gegen ihre Policy. Alles klar, LinkedIn/Microsoft).

Da mein Post der Ausgangspunkt für diesen deutlich ausführlicheren Beitrag ist, hier nochmal im Wortlaut für alle, die ihn nicht gelesen oder wieder vergessen haben:

 

“Bin ich der Einzige, der sich bei diesem neuesten Streich des Team #Laschet die Augen reibt? Was ist die Botschaft von Herrn Laschet? Ist das jetzt der große letzte Aufbruch vor der Wahl? Die Idee, die vor dem Absturz retten solll?

Meine 50ct: Wir brauchen keine 10 Jahre ausdiskutierten Masterpläne wie in den 50ern. Wir brauchen Rapid Prototyping, auch und gerade in der Politik, vor allem jetzt. Wir brauchen eben das, was Laschet ablehnt: #Experimente. Warum? Weil wir nur so erfahren, was wirklich funktioniert und was nicht. Weil wir dann unsere Ideen an der harten Wirklichkeit prüfen. Und schnell dazu lernen, anpassen und die nächste Iteration testen können. Anstatt ewig zu debattieren, Bedenken hier, Bedenken da. Alles theoretisch begründet, statt empirisch getestet. Dabei ist völlig egal, ob etwas früher schon funktioniert hat oder nicht. Denn daraus folgt mitnichten, dass es unter den heutigen Bedingungen zum selben Ergebnis führt.

Mit anderen Worten: Wir brauchen eine #AgilePolitik. Nicht dass ich glaube, dass wir die mit Herrn Scholz bekommen. Aber diese Werbung, nun ja.

#Bundestagswahl #Politik #Wahlwerbung #Fortschritt #Innovation #Experimentierfelder”

Begriffsklärung Experiment 

Soweit, so gut – und oberflächlich. Gehen wir heute etwas mehr ins Detail: Zu Beginn gilt es erst einmal ein wenig Begriffsklärung zu betreiben, denn ganz offensichtlich wird der Begriff “Experiment” von einigen in alltagssprachlicher Beliebigkeit für alles Mögliche mit bewusst negativer Konnotation benutzt, um ihn zu diskreditieren. Eben so, wie das ehedem auf dem CDU Wahlplakat erfolgreich gemacht wurde. Mein Begriffsverständnis formulierte ich dem Verfasser des rechts oben dokumentierten Kommentars gegenüber folgendermaßen: “Ich meine den Begriff in einer wissenschaftlichen Bedeutung: Dann inkludiert das Experiment von Anfang an die Möglichkeit des Scheiterns – um die eigene Hypothese im Anschluss zu korrigieren und so daraus zu lernen. Dann ist auch das gescheiterte Experiment wertvoll, weil es Erkenntnisgewinn bringt.” Also:

“Experiment” ist kein beliebiger Begriff. Im Kontext agiler Politik ist er im Kern wissenschaftlich gemeint. Experimente testen Hypothesen und beinhalten von Anfang an die Möglichkeit des Scheiterns, um daraus zu lernen und die Hypothesen neu auszurichten.

Somit ist längst nicht alles ein Experiment. Dem oben zitierten Verfasser mit seinem fraglichen Verständnis von Faschismus antwortete ich weiter: “Ich bezweifel hier allen Ernstes, dass Hitler und seine Nazi-Schergen ihr eigenes Scheitern von Anfang an als ernsthafte Option in Rechnung stellten, um dann ihre kranken Wahngebäude zu korrigieren.” Ich glaube, das bringt es immer noch gut auf den Punkt. Damit wir von einem Experiment reden können, bedarf es erstens einer Hypothese, die falsifiziert werden kann und zweitens den Willen, ein anderes als das gewünschte Ergebnis nicht als Scheitern zu begreifen, sondern als wichtigen Lernschritt, um der Lösung des Problems näher zu kommen. Somit ist das Experiment, wie ich es im Kontext agiler Politik meine, zutiefst mit dem Wunsch nach Erkenntnisgewinn und Lernen verbunden. Was wiederum die generelle Haltung impliziert, das wir uns getäuscht haben können und das unsere Sicht nichts weiter als eine Annahme ist, die es agil iterativ zu überprüfen gilt.

Es gehört noch etwas Weiteres zum Experiment: Eine Testumgebung, safe enough to try. Wir haben allerdings im Allgemeinen keine Testlabore, in denen wir größere Gruppen von Menschen in einer simulierten Realität eine politische Idee, ein neues oder wieder auf den Tisch gekommenes Konzept testen lassen können. Mal abgesehen von ethischen Fragen. Klar ist auf der anderen Seite auch, dass es wohl keine gute Idee wäre, beispielsweise alle deutschen Großstädten ab 500.000 Einwohner gleichzeitig zur autofreien grünen Zone zu machen. Wir kennen die Effekte nur bedingt, wie zB die autofreie Friedrichstraße in Berlin 2020 (vgl. Schwietering, C. 2020), mal abgesehen von regionalen Unterschieden hinsichtlich verschiedener Dimensionen wie Straßen-Infrastruktur oder gesellschaftliche Akzeptanz. Also müssen wir auch die potentiell großen Entwürfe im kleinen testen. So wie wir das auch bei einer organisationalen Transformation machen, bei der ebenfalls nicht gleich das gesamte Unternehmen auf den Kopf gestellt wird.

Begriffsklärung agil

Agilität wurde leider in den letzten Jahren zu einem fragwürdigen Buzzword. Ein wichtiges Konzept verkam zur Managementmode, zur Sau, die durch viele Organisationen getrieben wird, um auf der Höhe der Zeit zu sein, ohne eine wirkliche Transformation zu vollziehen, indem ein paradigmatischer Wechsel der Führung und Gestaltung in diesen Organisationen stattfindet. Leicht sichtbar wird dies am Diktat der Methode. Es gilt Scrum einzuführen, oder besser: zu implementieren. Womit wir bei den obligatorischen Softwaretools sind, die aufs betriebliche IT-System aufgespielt werden. Das war’s dann. Alles weitere ist Zeit- und Geldverschwendung. Nicht bei und mit uns. Nicht im Zusammenhang mit agiler Politik. Somit müssen wir erst klären, was agil überhaupt bedeuten soll.

Ich greife hier im ersten Schritt auf das AGIL-Schema des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zurück. Das hat zwei Gründe: Erstens ist sein Akronym AGIL aus meiner Sicht trefflich, weil es das gut auf den Punkt bringt, worum es im Kern von Agilität geht. Zweitens hat Parsons dieses Schema im Zusammenhang mit seiner Handlungstheorie und allgemeinen Theorie sozialer Systeme entwickelt, was hochgradig kompatibel zur Politik als einem spezifischen Handlungsraum und sozialen (Sub)System ist. AGIL ist bei ihm die Zusammenfassung folgender Begriffe und der damit verbundenen Bedingungen für die Überlebensfähigkeit sozialer Systeme:

  • A: Adaption, die Anpassung an die Umwelt
  • G: Goal Attainment, die Zielsetzung und -erreichung
  • I: Integration, die “Verknüpfung und Zusammenhalt der sozialen Beziehungen, von Mitgliedschaften und Loyalitäten” (Lernhelfer: AGIL-Schema)
  • L: Latency oder latent pattern maintenance, der “Strukturaufbau und schöpferischer Strukturwandel entsprechend den Grundprinzipien (Werte, Normen, Kulturmuster) des Systems” (ebnd.)

Damit haben wir ein Set von Aufgaben und Herausforderungen, die durch ihre Verwirklichung dazu dienen, dass ein soziales (Sub)System überlebensfähig ist. Wenn wir dies auf unsere nationalen und globalen Gesellschaften im Kontext der aktuellen Herausforderungen der Klimakrise infolge der Erderwärmung ebenso wie der internationalen Schwächung einiger Demokratien beziehen, können wir verschiedene Aufgaben ableiten. Nur ein Beispiel: Gerade der “Zusammenhalt sozialer Beziehungen” ist zunehmend geschwächt, was seinen Ausdruck in einem international erstarkenden nationalistischen Backlash findet. Die Gründe dafür sind vielfältig, einer dürfte in den illusionären Versprechen der Leistungsgesellschaft liegen, wie es aktuell Michael Sandel, der in Harvard politische Philosophie lehrt,  in seinem äußerst lesenswerten Buch “Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unserer Demokratien zerstört” herausgearbeitet hat (Sandel 2020).

Aber es braucht noch eine zentrale Zutat mehr: Das Experiment im oben definierten Sinn, bzw. eine experimentelle Grundhaltung. Wir entwickeln eine Hypothese, zum Beispiel in Form eines Konzepts wie des Bedingungslosen Grundeinkommens. Agile Politik beginnt in dem Moment, wo wir aufhören, ideologische Debatten zum Für und Wider zu führen und statt dessen solche und andere Konzepte experimentell erproben. Solange wir keine empirischen Daten erzeugen, die wir anschließend auswerten können, bleiben alle vorherigen, teils jahrelangen Positionierungen zum Pro und Contra nichts weiter als unbelegte Behauptungen. Aber genau dazu haben wir keine Zeit mehr, wie beispielsweise der aktuellen IPCC Bericht zeigt. Unsere Häuser brennen, werden weggespült – und wir debattieren weiter. Das muss aufhören.

Die nötigen Elemente

Ziehen wir eine kurze Zwischenzusammenfassung, was es für eine agile Politik braucht:

  1. Eine experimentell-agile Haltung: Politiker:innen müssen aufhören, wichtige und dringliche Themen ideologisch zu durchdringen, besetzen und instrumentalisieren. Statt dessen bedarf es einer natürlichen Neugier (vgl. Zeuch 2021), etwas ausprobieren zu wollen. Wohlwissend, dass dies ein Experiment ist, ein Test. Das Ergebnis kann dabei zeigen, dass das Konzept den gewünschten Effekt nicht erreicht. Und das wird als integraler Teil dieses Prozesses verstanden, eine gute Möglichkeit, die Ausgangshypothese weiter zu schärfen, anzupassen oder gar eine völlig neue zu entwickeln.
  2. Iterative Experimente: Sie sind der zentrale und relevante Unterschied zum momentanen Vorgehen, etwaige Vor- und Nachteile, Risiken und Chancen viel zu lange ohne konkrete empirische Daten bezüglich der fraglichen Veränderungen zu debattieren. Diese Experimente haben, wie eben unter 1) bezüglich der Haltung dargestellt, die klar umrissene Aufgabe, die fraglichen Veränderungen im echten Leben zu erkunden und herauszufinden, was an der jeweiligen Iteration bereits funktioniert und was verbessert werden muss, bzw. ob eine andere Lösung entwickelt werden muss.
  3. Sichere Testumgebung: Um Risiken bei den Experimenten möglichst weitgehend zu minimieren, ist eine zeitlich und räumlich sichere Testumgebung nötig. Dazu braucht es klar definierte Räume in jeglicher Hinsicht (geografisch, juristisch, zeitlich…) und Auslaufklauseln (sunset clauses). Ebenso sollten mögliche Abbruchkriterien definiert werden, falls bereits im Verlauf drohende Schäden entstehen.
  4. Lern- und Fehlerkultur: Um die Experimente möglichst sinnvoll zu nutzen, braucht es im Verlauf mehrerer Iterationen eine möglichst effektive und effiziente Lern- und Fehlerkultur. Dabei sollte es parteiübergreifend nicht mehr darum gehen, Fehler politisch auszuschlachten, sondern im Sinne des co-kreativen Lernens gemeinsam die Konsequenzen und Schlussfolgerungen zu erarbeiten. Mir ist vollkommen klar, dass dies der augenblicklichen politischen Kultur massiv widerspricht, die mit unserer parlamentarischen Demokratie verwoben ist. Wohin indes die Zuspitzung parteilicher Konflikte führt, können wir in den letzten Jahren an der Paralyse der US amerikanischen Demokratie beobachten.
  5. Reviews: Die jeweiligen Experimente und ihre Ergebnisse müssen gemeinsam möglichst unvoreingenommen ausgewertet werden. Dazu braucht es einen deliberativen Prozess einer möglichst heterogenen Review-Gruppe, die alle betroffenen Stakeholder:innen umfasst. Diese Reviews sollten, ähnlich wie losbasierte Bürger:innen-Räte von neutralen Personen moderiert werden, die über entsprechende Kompetenzen verfügen und inhaltlich nicht eingreifen.
  6. Retrospektiven: Last but not least muss der Prozess und das Konzept agiler Politik selbst immer wieder auf den Prüfstand, um sie so fortlaufend zu verbessern und an die gegebenen Anforderungen anzupassen. Dies ist die Parallele zu Retrospektiven bei agilen Frameworks wie Scrum.

Arbeitsdefinition

Nach den bisherigen Schritten hier nun meine vorläufige Arbeitsdefinition. Sie unterscheidet sich deutlich von den bisherigen Entwürfen, die ich weiter unten kurz zusammenfasse. Denn nach meinem Verständnis brauchen wir eine agile Politik noch viel dringender in anderen Bereichen und Zusammenhängen als lediglich der (digitalen) vierten industriellen Revolution, bzw. der digitalen Transformation.

Agile Politik ist die maximal schnelle und dem jeweiligen Thema angemessene Umsetzung technologischer und/oder sozialer Innovationen, Anreizsysteme und Regularien auf der Basis iterativer Testung durch wissenschaftlich verstandene Experimente im Rahmen sicherer Testumgebungen.

Agile Politik: Bisherige Entwürfe

agile Politik auch bei der OECD
Einer der länger veröffentlichten Beiträge zur agiler Politik

Wie so oft, oder gar meist, gibt es eine Idee schon länger. Wäre auch erstaunlich gewesen. Was ich so spontan raugehauen hatte, wurde längst gedacht und entwickelt. Bereits eine kleine erste Internet Recherche führte mich zu mehreren interessanten Quellen. Besonders hilfreich war ein einführender Artikel des Bonner Politologen und Digitalstrategen Dr. Michael Strautmann. Vor dem Hintergrund einer sich beschleunigenden und zunehmend komplexeren Welt kommt er zu dem Schluss, dass “Es … auch besondere Fähigkeiten und Methoden [bedarf], um die sich ständig verändernde Nachrichtenlage zu bewältigen. Das sind andere Skills, als sie die Führungspersönlichkeiten der Vergangenheit unter Beweis stellen mussten.” (Strautmann 2020) Früher sah das ganz anders aus: “Im letzten Jahrhundert konnte man noch Strategien formulieren, die viele Legislaturperioden Bestand hatten.” (ebnd.) Über solche Strategien hinaus gab und gibt es noch eng mit politischen Ideologien verwobene Großkonzepte, wie den Sozialismus, Marxismus, Soziale Marktwirtschaft (die von zwei Kommentatoren meines LinkedIn Posts simplifizierend Ludwig Erhard zugeschrieben wurden) und dergleichen mehr.

Strautmann verwies in seinem lesenswerten Beitrag unter anderem auf den OECD Report “Digital Innovation. Seizing Policy Opportunities” von 2017. Dort rät die OECD zu  zu einem “responsiven und agilen Politikansatz, um schnell ausprobieren und Handlungen je nach Feedback anpassen zu können.” (Strautmann 2020). Also ziemlich genau das, was ich mit meinem initialen Post meinte. Allerdings bezieht und beschränkt sich die OECD dabei vorwiegend auf das Gebiet digitaler Innovation: “How should innovation policies be adapted to the digital age.” (OECD 2017: 6) Strautmann verweist zu Recht darauf, dass agile Politik noch längst kein common sense ist und zitiert Professor Dr. Dietmar Harhoff, den ehemaligen Vorsitzenden der Expertenkommission Forschung und Innovation der deutschen Bundesregierung, der fragte, “wie die Forschungs- und Wirtschaftspolitik in Zukunft dynamischer und agiler werden kann, [um] schneller und präziser Impulse aufzunehmen und zu reagieren?” – und sich damit ebenfalls auf den Sektor Wirtschaft beschränkt und reduziert.

In einem neueren Beitrag von 2021 verwies die Autorin Maria-Elisa Schrade auf ein Whitepaper des World Economic Forum, das ebenso wie der OECD Report 2018 erschien: “Agile Governance. Reimagining Policy-making in the Fourth Industrial Revolution.” Hier geht es deutlich ausführlicher zur Sache, aber der Kontext bleibt mehr oder weniger derselbe, nur unter einem anderen Wording: Die vierte industrielle Revolution. Auf die Begründung des WEF, warum die vierte (digitale) industrielle Revolution eine neue Art der Regierungsführung[2] brauche, gehe ich hier nicht näher ein, da mir der Fokus auf diese Teilmenge entschieden zu klein ist. Mir geht es um eine agile Politik im Allgemeinen. Interessanterweise beziehen sich die Autor:innen des Whitepapers explizit auf das Agile Manifest. Dessen vier Prinzipien werden indes a) so anders formuliert, dass sie mitunter eine andere Bedeutung bekommen und b) in einer anderen Reihenfolge präsentiert. (vgl. a.a.O.: 6) Die Autor:innen bleiben auch eine klare, präzise Definition schuldig, halten aber fest, dass agile governance Geschwindigkeit nicht um den Preis von Genauigkeit, Effektivität und Repräsentativität erreichen will.

Als Methoden der agile governance werden Systemdenken und Design Thinking aufgeführt und gerade mal auf einer Seite abgehandelt, wobei sich mir diese äußerst beschränkte Auswahl nur bedingt erschließt. Als Instrumente werden politische Labore, regulatorische Sandkästen (regulatory sandboxes, also spezifische Umgebungen zum Testen neuer Regularien, wie ich sie oben ganz allgemein als Testumgebung meinte), das Beschleunigen von Agilität durch das Nutzen von Technologien, Förderung von Governance Innovation, crowdsourced policy-making, Förderung der Zusammenarbeit von Regulatoren und Innovatoren, öffentlich-private Datenteilung und direkte Repräsentation in der Governance alle jeweils sehr kurz in einigen Abschnitten skizziert.

Im Dezember 2020 folgte ein weiteres WEF Whitepaper, “Agile Regulation for the Fourth Industrial Revolution. A Toolkit for Regulators.” In diesem Paper wird im vierten Kapitel explizit eine “experimentelle Regulation” beschrieben. Ohne den Anspruch, insbesondere dieses vierte Kapitel komplett durchdrungen zu haben, scheint mir doch einiges an diesem Ansatz fragwürdig. Das beginnt – wie beim OECD Report – damit, dass die Agilisierung der Politik lediglich in Bezug auf die digitalsierte Wirtschaft gefordert und beschrieben wird. Spätestens wenn der Chef von Amazon UK damit zitiert wird, dass die Regulation Hand in Hand mit der jeweiligen Technologie entsteht, ist Vorsicht geboten (vgl. a.a.O.: 21).

Beispiele im Bereich technologischer Innovationen

E-Scooter in San Francisco

Erinnerst Du Dich genauso wie ich an die ersten Wochen, als plötzlich einige E-Scooter Anbieter verschiedene deutsche Städten mit ihren Rollern fluteten? Überall tauchten diese Teile auf, standen und lagen chaotisch in der Gegend rum, blockierten Fuß- und Fahrradwege und führten so zu erheblichem Ärger. Nicht umsonst kam es zu nachvollziehbaren Entladungen über diesen rücksichtslosen Wildwuchs einer technologischen Innovation wie in Paris, wo eine nicht unerhebliche Menge in der Seine landeten oder in Marseille im Mittelmeer (vgl. Manager Magazin 2019). Ebenso kamen berechtigte Fragen zur Sicherheit der Fahrer:innen auf wie noch das eine oder andere weitere Thema. In Paris droht aktuell der mögliche Lizenzentzug für Betreiber und in der FAZ erschien gerade gestern ein aktualisierter Bericht, der auf die nachträgliche kommunalpolitische Regelung verweist. Dieser Fall illustriert die Situation eines völlig ungeordneten Vorgehens, bei dem die Innovatoren zwar schnell ihre Produkte auf den Markt werfen konnten, dafür aber viele Stakeholder:innen das Nachsehen hatten und mit diesem Ärgernis teils bis heute leben müssen. Aber das geht auch anders.

Um herauszufinden und letztlich zu bestimmen, wie die Einführung von E-Scootern in San Francisco gelingen kann, erließ das San Francisco Board of Supervisors im ersten Schritt ein Gesetz, damit die San Francisco Municipal Transportation Agency (SFMTA) ein Testprogramm aufsetzen konnte. Daraufhin wurde durch die SFMTA eine Ausschreibung initiiert, in der die Sorgen der Stadt hinsichtlich Fragen der Sicherheit, Fairness und Verantwortlichkeit adressiert wurden. Nach der Durchsicht von 12 Bewerbungen wurde an zwei Firmen für zunächst sechs Monate eine Erlaubnis für 625 Scooter erteilt. Im weiteren Verlauf, sozusagen einer zweiten Iteration, wurde diese Menge entlang klar definierter Kriterien auf 2500 ausgedehnt. Zur Sicherung der nötigen Transparenz veröffentlichte die SFMTA ihren Entscheidungsprozess ebenso wie das Programm evaluiert wurde.

Nach Abschluss dieses Experiments wurde vier Anbietern eine Erlaubnis aufgrund klarer Kriterien erteilt: Wie wird das Problem des Parkens der Scooter gemanaged und durchgesetzt, wie werden die jeweiligen Gemeinden eingebunden und wie werden Beschwerden adressiert und bearbeitet. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des WEF Whitepapers (2020), in dem dieser Fall skizziert wurde, kam es nach Abschluss des Experiments zu täglich 6700 Scooter Fahrten in San Francisco.

Rechtsunterstützung in England und Wales

In England und Wales erhielten nur rund 30% der Bürger:innen und nur 10% kleiner Unternehmen mit rechtlichen Problemen Unterstützung durch Experten. 63% der Bürger:innen waren der Auffassung, dass sich gewöhnliche Leute keine Rechtsberatung leisten können. Das war die Ausgangssituation des zweiten Falles.

Diesem Problem nahm sich die Solicitors Regulation Authoritiy (SRA), die für die Regulierung von Rechtsbeiständen verantwortlich ist, gemeinsam mit der Innovationsstiftung Nesta an. Die Kooperation zielte auf die Beschleunigung der Entwicklung von Produkten, Dienstleistungen und Plattformen für Bürger:innen sowie kleine und mittlere Unternehmen, um deren rechtliche Probleme besser zu verstehen und zukünftig leichter zu lösen. Es sollte besser verstanden werden, ob es regulatorische Hindernisse für Rechtstechnologien und -lösungen für einen Massenmarkt gibt.

Letztlich kam es dazu, dass die SRA acht Finalisten unterstütze, die mit ihren Innovationen dafür sorgten, dass rechtliche Dienstleistungen für einzelne Büger:innen, Familien und kleine Unternehmen besser zugänglich und erschwinglicher wurden. Im April 2020 wurden zwei Gewinner bekannt gegeben und mit einem Preisgeld von je 50.000 Pfund unterstützt, um ihre Lösungen besser und schneller auf den Markt zu bringen. Die eine Firma unterstützte mit ihren Dienstleistungen Frauen und Kinder, die unter häuslicher Gewalt leiden, um besseren Rechtsbeistand zu erhalten und sich so vor weiterer Gewalt und Missbrauch zu schützen. Die andere Firma entwickelte einen Chatbot für Menschen mit Lernbehinderungen, um ihnen Rechtsbeistand hinsichtlich Betreuung und Sozialhilfe zu ermöglichen.

 

Summa summarum:

Agile Politik ist keine bloße Idee eines spinnerten unternehmensdemokraten. Die ersten Schritte sind getan. Die Reise hat begonnen. Lasst sie uns auch hier bei uns in Deutschland voranbringen.

 

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

  • [1] Bullshit ist hier nicht umgangssprachlich gemeint, sondern in der Bedeutung von Harry Frankfurt, der in seinem Essay “On Bullshit” dem Phänomen der Bullshiterei (Hohlsprech, Salbadern, Humbug, Schwachsinn…) nachging. Gemeint sind teils bedeutungsvoll klingende Behauptungen, die keine bewusste Lüge oder Falschnachrichten sind, aber umgekehrt einer faktischen Prüfung nicht im Geringsten gewachsen sind. Zudem ist es den Bullshitern egal, was sie von sich geben.
  • [2] Governance meint mehr als nur Regierungsführung: “Der Begriff G. [lat.: gubernare = steuern] wird seit den 1990er-Jahren in der EU-Forschung genutzt, um neue, nicht hierachische Formen der politischen Steuerung und des »Regierens in Netzwerken« (engl.: »network governance«) zu beschreiben. (Bundeszentrale für politische Bildung). Trotzdem erlaube ich mir hier diese Vereinfachung in Anbetracht der Kürze dieses Beitrags.

 

Literatur

  • Lernhelfer: AGIL-Schema. Lernhelfer.de
  • OECD (2017):
  • Sandel, M. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerstört. S. Fischer
  • Schrade, M.-E. (2021): Warum wir agile Politikgestaltung zur Lösung globaler Krisen benötigen. pt-magazinde
  • Schwietering, C. (2020): Wie sich autofreie Zonen auf den Verkehr auswirken. Handelsblatt online
  • Strautmann, M. (2020): Agiles Krisenmanagement | Die Politik der Zukumft.
  • WEF (2018): Agile Governance Reimagining Policy-making in the Fourth Industrial Revolution. WEF Whitepaper, REF 061217
  • WEF (2020): Agile Regulation for the Fourth Industrial Revolution. A Toolkit for Regulators. WEF Whitepaper,
  • Zeuch, A. (2021): Das Menschenbild in Zeiten global-digitaler Wirtschaft. Blog des Instituts für Sozialstrategie

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Spiegel
  • Snapshot LinkedIn Kommentar: gemeinfrei
  • OECD Paper: gemeinfrei
  • E-Scooter: ©Cybularny, CC0

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