Purpose, Sinn und Orientierung in einer Gesellschaft voller Umbruchstendenzen (Teil 4)

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Bei allen bisher erschienenen Teilen der Blog-Reihe ergibt sich durch die Ausführungen immer wieder die Dominanz der Subjektivität, wenn die Fragen nach dem Sinn bzw. der Sinnorientierung intensiviert wird. Nur weil sich gesamtgesellschaftlich auf bestimmte Werte und somit Sinndimensionen geeinigt wird, müssen diese nicht für alle Individuen zu mehr Sinnhaftigkeit oder geschweige -orientierung führen. Es kann also sowohl das Bild der hohen Identifikation sowie des Sinnerlebens mit dem Sinnverlust, der Sinnkrise sowie der Entfremdung einhergehen. Diese Ausprägungen können nebeneinander bestehen. In Bezug auf die Gesamtgesellschaft gibt es dennoch auch Entwicklungen, welche nicht auf individueller Subjektivität oder Nischen-Entwicklungen zurückzuführen sind, vielmehr handelt es sich um anerkannte Krisen, die das Miteinander und das Leben der Bevölkerung durchweg beeinflussen, beeinträchtigen und dadurch auch herausfordern. Daraus resultieren auch objektive Ebenen, Entwicklungen sowie Ausprägungen, die damit auch eine Rolle für die Frage nach dem Sinn und somit der Sinnorientierung spielen. Vereinfacht könnten die gesellschaftlichen Sinn-Fragen also lauten:

Wohin möchten wir uns als Gesellschaft entwickeln? Welche Richtung schlagen wir ein? An welche Werte orientieren wir uns – auch im Hinblick auf unsere Arbeitswelt?

Wie in den einführenden Darlegungen festgestellt, sind Werte elementare Bestandteile der Frage nach dem Sinn. Die Wirtschafts-, Finanz-, und Klimakrise zeigen dabei Auswirkungen auf das große Ganze. Unabhängig von Entwicklungen wie der Individualisierung bleiben der Lebensraum sowie die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme kollektive Güter, die vom Verhalten und der Haltung aller Gesellschaftsmitglieder abhängen und sich entsprechend auswirken. Gleichzeitig repräsentieren die Krisen einen starken Handlungsbedarf und weisen dadurch auf Krisenherde hin, bei denen sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft der Frage nach der Verantwortung nicht ausweichen kann, um sich mit ihr auseinanderzusetzen – dennoch finden sich selbstverständlich Mittel und Wege, auch demgegenüber die Augen zu verschließen.

Durch die Klimakrise als eine Dimension der Planetary Boundaries (Rockström et al. 2009), zeigen sich durch das menschliche Leben auf der Erde Auswirkungen auf das Erdsystem, durch die erhebliche Umweltveränderungen nicht mehr ausgeschlossen werden können. Die planetaren Grenzen sind durch Grenzwerte definiert und beziehen sich auf Dimensionen wie den Klimawandel, die Versauerung der Ozeane, auf biogeochemische Kreisläufe oder auch auf die Landnutzungsänderung. Die Schwellenwerte geben dabei Grenzbereiche ein; bei Überschreitungen wird vor schädlichen oder sogar katastrophalen Auswirkungen auf das Erdsystem gewarnt. (Vgl. ders., 1)

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich durch eine hohe Zunahme der Arbeitslosigkeit ausgedrückt, durch sinkende Steuereinnahmen und steigende Zahlen bei den Sozialausgaben, die Staatshaushalte einiger Länder wurden massiv belastet. Zudem muss in diesem Kontext auf die Verluste von etlichen Sparern eingegangen werden, denen seitdem erhebliche Zinsen entgangen sind (vgl. Handelsblatt 2019). Durch diese Entwicklungen sowie Ursachen rutschte auch die Wirtschaft an sich in eine Vertrauenskrise, nicht zuletzt auch aufgrund der zunehmenden Macht auf die Gesamtwirtschaft, die von einzelnen Großunternehmen ausgeht und die dadurch ganze Wirtschafts- sowie Gesellschaftsdynamiken massiv beeinflussen können, nach wie vor. (Vgl. WirtschaftsWoche 2020)

Das Gute Leben und die Gute Arbeit

In der Soziologie wird sich auch zunehmend mit der Frage nach dem guten Leben auseinandergesetzt, im Zusammenhang mit der Frage nach dem guten Arbeiten. Dabei geht es sowohl um die Verhältnisse zueinander als auch um die grundsätzliche Frage nach dem veränderten Erleben von Arbeit. Friedericke Hardering und Mascha Will-Zocholl (2015) führen in diesem Zusammenhang verschiedene soziologische Befunde an:

  • Ende der Arbeitsgesellschaft: „Geht es allgemein in der Diskussion um das Ende der Arbeitsgesellschaft zunächst also um den Sinn von Arbeit als Modus sozialer Integration, der Sicherung der Existenzgrundlage und der sozialen Identität, die Menschen über ihren Beruf definieren, so werden bei der dadurch aufgeworfenen Infragestellung der Konzeption von Arbeit – auch von jenen, die ein Verschwinden der Arbeit bestreiten – Sinnfragen adressiert (Arendt 1960; Bahrdt 1983; Dahrendorf 1983; Schmidt 1999).“ (Dies., 4; Hervorhebungen von Paul Carduck)
  • Prekarisierung der Arbeit: „Insgesamt finden sich in der Prekarisierungsdiskussion somit wichtige Bezüge auf Fragen nach der sinnvollen Gestaltung von Arbeit: Die Diskussion über Arbeitsinhalte bezieht sich dabei primär auf den Sinn in der Arbeit, wohingegen die normalbiographischen Orientierungslinien Fragen der Zentralität von Arbeit berühren. Zugleich reichen die Überlegungen zur Normalbiographie über das engere Feld der Arbeit hinaus, und adressieren die grundlegende Frage nach dem guten bzw. sinnvollen Leben.“ (Dies., 7; Hervorhebungen von Paul Carduck)
  • Entfremdung: „(…) Im [sic!] Kontext von Entfremdung [wird] sinnvolle Arbeit unmittelbar zum Thema. Der Logik eines Krisendiskurses folgend steht allerdings die Abwesenheit, das Fehlen einer subjektiv gelingenden Bezugnahme auf die eigene Arbeit im Zentrum. Fragen nach der Zentralität von Arbeit werden nur peripher aufgegriffen, und zwar immer dann, wenn Modelle gelingender Aneignung bzw. Resonanzerzeugung adressiert werden.“ (Dies., 8; Hervorhebungen von Paul Carduck)
  • Gesellschaftliche Transformation: „Für die aktuelle Debatte darüber, was gutes Leben ist und wie ein solches gestaltet sein soll, erweisen sich die Krisendiskurse der Arbeit als wichtige Fundstellen, aus denen normative Vorstellungen sinnvoller Arbeit und eines guten Lebens rekonstruiert werden können. Um ein breites Bild von solchen Entwürfen zu gewinnen, ist es zudem hilfreich nachzuvollziehen, was gegenwärtig von Beschäftigten unter einer sinnvollen Arbeit verstanden wird und wann sie ihre Arbeit als sinnvolle Arbeit erleben. Darüber wird es möglich, die Krisenbeschreibungen zu ergänzen um eine Perspektive auf Vorstellungen sozial wünschenswerter Formen von Arbeit. Diese Perspektiven auf das Wünschenswerte, die sich anhand subjektiver Deutungen rekonstruieren lassen, liefern gerade in Zeiten, in denen über neue Gesellschaftsmodelle wie die Postwachstumsgesellschaft nachgedacht wird, wichtige Hinweise auf Zielvorstellungen für den gesellschaftlichen Wandel.“ (Dies., 9; Hervorhebungen von Paul Carduck)

Ein entsprechendes Gegenwicht zu vielen und großen Herausforderungen der Gegenwart schaffen die Entwicklungstendenzen rund um die Nachhaltigkeitsdebatte. Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt von Hans Carl von Carlowitz, welcher die Form der Nachhaltigkeit erstmals 1713 im Kontext der nachhaltenden Waldwirtschaft formulierte, in seinem Werk Sylvicultura oeconomica. Dabei wies er darauf hin, nur so viel Holz zu schlagen, wie auch in Summe nachwächst. Mittlerweile ist der Fokus nicht mehr auf die Waldwirtschaft gerichtet, es geht vielmehr um ein Konzept mit dem Menschen im Fokus, wie dabei gegenüber dem Planeten und der Menschheit eine zukünftige Entwicklung gesichert werden kann, von welcher noch viele Generationen partizipieren können, ohne in Zukunft eine schlechtere Lebensqualität oder ein beschädigtes Erdsystem vorzufinden.

„Die Suche nach Kriterien, Leitlinien und Umsetzungsstrategien für einen lang- fristig und global aufrecht erhaltbaren Entwicklungspfad der Menschheit ist in den letzten Jahren zu einem beherrschenden Thema in den Wissenschaften, in den nationalen und internationalen umwelt-, technik- oder entwicklungspolitischen Diskussionen sowie in der Öffentlichkeit geworden. Der Begriff des „Sustainable Development“ – ins Deutsche übersetzt vornehmlich als nachhaltige, zukunftsfähige oder dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung – steht dabei im Mittelpunkt.“ (Jörissen et al. 1999, 3)

Dadurch hat sich ein entsprechendes Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ergeben, welches 1992 durch eine Konferenz der United Nations auf breite Zustimmung gestoßen ist und 1995/96 ebenfalls auf Ebene der Europäischen Union:

„Als generelles Leitbild erfreut er sich mittlerweile auf der Ebene politischer Programmatik weltweit breiter Zustimmung aller gesellschaftlichen Akteursgruppen. Anläßlich der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro verpflichtete sich die internationale Staatengemeinschaft in großer Übereinstimmung (173 Unterzeichnerstaaten), das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auf der nationalen Ebene sowie in enger Kooperation mit anderen Ländern in konkrete Politik umzusetzen. Auch auf EU-Ebene fand das Leitbild Beachtung, beispielsweise als generelle Zielstellung in der Präambel des quasi verfassungsähnlichen Amsterdamer Vertrags von 1995/96 oder im 5. Rahmenprogramm der EU.“ (Ders., 3)

Die Frage nach der Endlichkeit von Ressourcen wurde 1972 bereits durch den Club of Rome aufgeworfen. Durch die Grenzen des Wachstums kam es in Politik und Wirtschaft auch zu weiteren Auseinandersetzungen sowie Debatten zu den Themenbereichen Verfügbarkeit von Ressourcen, Wirtschaftswachstum und der Frage nach Lebensstilen sowie Produktionsweisen. (Vgl. ders., 13) Dabei lässt sich die Nachhaltigkeit sowie die Nachhaltige Entwicklung auf drei Handlungsbereiche zusammenfassen: auf die Ökologie, die Ökonomie und auf den Bereich Soziales (Drei Säulen-Modell). Das Modell wurde in dem EU Vertrag von Amsterdam (1997) explizit genannt und machte die Nachhaltigkeit im Bereich Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Umweltschutz zu einer bedeutungsvollen Herausforderung. Seit dieser Zeit hat es eine Vielzahl von unterschiedlichen Modellen (z.B. auch das Integrative Konzept der nachhaltigen Entwicklung) gegeben, welche jeweils andere Schwerpunkte aufgewiesen haben oder andere Elemente in das Zentrum der Betrachtung heben wollten. An dieser Stelle lässt sich auch das 4-Säulen-Modell anführen, welches neben den o.g Elementen die Kultur als weitere Dimension einbindet.[1] Durch die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) sind die Konzepte soweit operationalisiert, um sie auch auf ganz konkrete und pragmatische Ziele anwenden zu können. Wie zu Beginn der Blog-Reihe angeführt, fokussieren meine Ausführungen auf Ziel 3 (Gesundheit und Wohlergehen) und Ziel 8 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum).

Nicht zuletzt durch eine verstärkte Debatte um den Themenbereich der Nachhaltigkeit lässt sich ein Werte- und Bewusstseinswandel, wie bereits in der Reihe zur Bezugsebene Mensch aufgeworfen, in der breiten Öffentlichkeit bestätigen. Weitere Beispiele wie die Bewegungen rund um Do-It-Yourself, Urban Gardening, Postwachstumsgesellschaft, Soziale Landwirtschaft etc. untermauern diese Veränderungen flächendeckend. Dazu zählen auch weitere Wohn- und Konsumtrends, welche sich explizit auf minimalistische Wohn- und Lebensformen beziehen und dadurch andere sowie neue Werte stärker in die gesellschaftliche Mitte bewegen fernab von bisher dominierenden Ausrichtungen nach mehr, höher, weiter und schneller.

Was machen wir eigentlich?

Der Autor von Reinventing Organizations, Frédéric Laloux, hat 2019 in einem Podcast der Arbeitsphilosophen weitreichende Fragen aufgeworfen, die auf genau dieses Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und dem unternehmerischen Handeln anspielen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme beschäftigt ihn insbesondere der Klimawandel mit all seinen Auswirkungen, dadurch liegt der Fokus seiner Gedanken auf Unternehmen und auf die Gesellschaft. Die Oberflächlichkeit der Annäherung, von Seiten Unternehmen, bewegt ihn dabei und entsprechend appelliert er an die ehrliche, mutige Frage: „Was machen wir eigentlich?“ (Laloux 2019, Minute 08:10 bis 08:12). Dabei fordert er Unternehmer auf, den Mut aufzubringen, sich folgende drei Fragen zu stellen und sich damit einem Selbsttest zu unterziehen mit der Kernintension und -frage: „Haben wir eigentlich ein Bestehensrecht, dienen wir eigentlich der Welt oder sind wir eigentlich zerstörerisch?“ (Ders. Minute 08:43 bis 08:48)

  1. „Stell dir vor, es gäbe keine Werbung, stell dir vor, Marketing wäre nicht erlaubt. Was würde mit unserem Umsatz passieren? (…) weltweit ein paar Milliarden in Marketing und Werbung pumpen, um eigentlich erstmal die Nachfrage aufzubauen für dein Produkt, eigentlich braucht dein Produkt niemand. (…) Braucht es dein Produkt dann eigentlich?“ (Ders., Minute 08:55 bis 09:39)
  2. „Stell dir vor, bevor jemand dein Produkt oder deinen Dienst kauft, müsste er sich ein 5-minütiges Video anschauen, wie dein Produkt oder Dienst hergestellt wurde? (…) Was würde dann mit deinem Umsatz passieren? Wie viele Leuten würden sich das eigentlich noch kaufen?“ (Ders., Minute 09:56 bis 11:01)
  3. „Was würde mit unserem Umsatz passieren, wenn … wenn die vollen Kosten angerechnet würden?“ (Ders., Minute 12:44 bis 12:50)

Laloux verbindet mit diesen Fragen sowohl Menschen, die Gesellschaft als auch Organisationen und umfangreiche Umweltaspekte. Damit sind auch alle Bereiche der Nachhaltigkeit abgedeckt: Ökologie, Ökonomie und Soziales. (Exkurs: eine Replik von Zeuch auf Kühl, im Hinblick auf die Schauseite von Purpose und dem damit verbundenen Legitimationsproblem.) Die Fragen zielen sowohl auf Verantwortung, Transparenz, Auswirkungen als auch auf ein gemeinsames Verständnis von Werten ab. Durch die Frage nach den Werten, wird auch die Frage nach dem Sinn- oder der Sinnorientierung aufgeworfen. Die Fragen nach dem Recht (Kurzer Exkurs und anschließende Provokation: Recht ist hier eine ethische und keine juristische Fragestellung. Obwohl genau dieser Umstand von Relevanz wäre: Was müsste passieren, damit Schwach-sinn-sunternehmen nicht mehr juristisch legitim sind?) der eigenen organisationalen Existenz, nach der Dienlichkeit gegenüber der Welt und die Frage nach der eigenen Zerstörungsmacht, fragen nach der Richtung und den Handlungen sowie nach den damit verbundenen Auswirkungen auf den Menschen und das Erdsystem. Durch diese Fragen wird die gesellschaftliche Verantwortung aller Beteiligten aufgegriffen.

Explizit wird von Laloux zwar der Unternehmer angesprochen und somit die entsprechenden unternehmerischen Handlungen, gleichzeitig zeigt es das Zusammenspiel und somit die dynamische Relevanz von Angebot und Nachfrage. An dieser Stelle kann Verantwortung nicht einseitig zu- oder abgesprochen werden, vielmehr handelt es sich um eine wechselseitige Beziehung, die in einer freien Marktwirtschaft auf gesellschaftliches Leben und gesellschaftliche Wertvorstellungen als Ganzes bezogen werden muss. Die Sinnfrage beschäftigt und betrifft also auch Gesellschaften:

„Unser Gesellschaftssystem in toto scheint auf einem instabilen Fundament zu stehen. Was lange als selbstverständlich galt, wird heute durch die Realität infrage gestellt: Das Primat von Wachstum und Fortschritt bröckelt angesichts von Wirtschaftskrise, Klimawandel und wachsender Einkommensschere.“ (Schnell 2016, 174)

Entfremdung und gesundheitsökonomische Fakten

Durch Rückbesinnung auf die bisherigen Veröffentlichungen meiner Blog-Reihe wird an dieser Stelle sowohl der Zusammenhang als auch die Wechselseitigkeit zwischen Individuum und Gesellschaft deutlich auf den Punkt gebracht, Tatjana Schnell führt weiterhin die dadurch entstehenden Dissonanzen an, die sich auch wieder wechselseitig bedingen:

„Wer sinnorientiert lebt, hat zwangsläufig den übergeordneten Zusammenhang im Blick. Wer Sinn sucht, fragt nach dem Warum. Und wird so immer wieder auf Dissonanzen und Ungerechtigkeiten stoßen, die mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen einhergehen.“ (Dies., 175; Hervorhebungen von Paul Carduck)

Als zwei weitere gesellschaftliche Entwicklungstendenzen lassen sich in diesem Zusammenhang sowohl die gesellschaftlich weit verbreiteten psychischen Störungen anführen: „Bei einer von drei Frauen und bei einem von vier bis fünf Männern im Alter von 18 bis 79 Jahren lag in den vergangenen 12 Monaten zumindest zeitweise mindestens eine psychische Störung vor (…)“ (Jacobi et al. 2014, 83) als auch ein damit einhergehender kontinuierlicher Anstieg des Gebrauchs von Psychopharmaka: „In Deutschland werden immer mehr Antidepressiva verschrieben. Im Zeitraum von 2008 bis 2017 stiegen die ärztlichen Verordnungen der Mittel zur Behandlung von Depressionen um über 50 Prozent.“ (statista 2019) Um weitere gesundheitsökonomische Zahlen in diesem Kontext zu nennen:

  • Deutschland: jährlich rund 44,4 Milliarden Euro an direkten Kosten, welche aufgrund psychischer Erkrankungen anfallen (Diagnoseklasse Psychische- und Verhaltensstörungen). (Vgl. Statistisches Bundesamt 2018, 153)
  • Gesamtkosten innerhalb der EU (inkl. indirekter Kosten wie Produktivitätseinbußen): geschätzt mehr als 600 Milliarden Euro/Jahr. (Vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2019, 3)
  • 2017: 16 % der Arbeitsunfähigkeitstage (107,0 von 668,6 Mio.) sind auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen. (Vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2019, 2)
  • Psychische Erkrankungen sind (Stand 2018) der häufigste Grund (43%) für Frühverrentungen. (Vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2019, 3)

Alleine diese Zahlen verweisen auf pathologische Gesellschaftsstrukturen, welche den Menschen in seiner Gesundheit eher vernachlässigen als zu schützen und dahingehend zu fördern. Der Soziologe Alain Ehrenberg formuliert den gesellschaftlichen Zwang, trotz Zweifel handlungsfähig zu bleiben und sich dabei auf innere Motivatoren zu stützen. Oder wie Zeuch (nach Sandel, M.J. (2020)) formulieren würde: “Wir werden nicht nur institutionell gezwungen, sondern schinden uns vor allem durch das verinnerlichte Leistungsnarrativ und die ständigen Vergleiche mit anderen.”

„In einer Gesellschaft, in der vor allem Leistung und individuelles Handeln zählen, in der einen Energieausfälle teuer zu stehen kommen können, weil man fortwährend auf der Höhe sein muss, ist Gehemmtheit eine Funktionsstörung, eine Unzulänglichkeit. Das Individuum wird institutionell gezwungen, um jeden Preis zu handeln und sich dabei auf seine inneren Antriebe zu stützen“ (Ehrenberg 2008, 287 nach Schnell 2016, 176)

Entwicklungsfreiheit und Suchbewegungen begünstigen die Sinnorientierung

Wenn jedoch Motivatoren und Antriebe nicht mehr ausreichen, zeigt sich der fast verzweifelte Umgang durch die steigenden Zahlen von Psychopharmaka – die Frage nach dem Umgang mit Sinnkrisen ist also auch gesamtgesellschaftlich eine entscheidende Fragestellung, insbesondere bei den zuvor angeführten Entwicklungstendenzen. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es um flächendeckende Lebensbedingungen (auch explizit in der Arbeitswelt), welche gegenwärtig und in der Breite weder Sinnorientierung geschweige das Bedürfnis nach Kohärenz begünstigen oder auch ermöglichen. An dieser Stelle kann auch das bedingungslose Grundeinkommen genannt werden, was als einen gesamtgesellschaftlichen Experimentier- und Untersuchungsgegenstand beschrieben werden kann: „Das Grundeinkommen soll dazu beitragen, Armut und soziale Notlagen zu beseitigen, den individuellen Freiheitsspielraum zu vergrößern sowie die Entwicklungschancen jedes Einzelnen und die soziale und kulturelle Situation im Gemeinwesen nachhaltig zu verbessern.“ (Netzwerk Grundeinkommen 2020) Damit soll weiterhin die Arbeitswelt humaner gestaltet, die würdevollere Partizipation im Hinblick auf Erwerbslose und auch Sozialhilfebezieher ermöglicht, Bildung, Familien und auch den Sozialstaat unterstützt werden. (Vgl. ders.) Denn wenn durch solche oder ähnliche Möglichkeiten ein gewisser Freiheitsraum eingeräumt wird, kann von Entwicklungsfreiheit gesprochen werden, die eine jeweils individuelle Sinnorientierung ermöglichen kann. Denn wie bereits bei Frankl festgestellt: Sinn ist nicht gegeben, Sinn muss gefunden, entdeckt, konstruiert werden und dieser aktive Prozess setzt die Suche voraus, welche wiederum entdeckerische Freiheit verlangt.

Neben dem Grundeinkommen, welches bereits lange und unterschiedlich stark debattiert wird, lässt sich auch an dieser Stelle noch einmal auf die Postwachstumsökonomie (Paech 2012) verweisen, auf Visionen für eine bessere Welt (Schmuck 2015), auf das Konvivalistische Manifest (Les Convivialistes 2014), auf die Transition-Town Bewegung (Hopkins 2014), welche sogar teilweise ihre eigene Währung einführt. Viele weitere Veröffentlichungen rufen eine neue Form sowie Art und Weise des zukünftigen Lebens aus (Plöger 2011, Schumacher 2013, Welzer 2013). Sowohl die Befunde als auch die neuen Konzepte und Veröffentlichungen weisen auf einen großen Trend hin, die auf die Suche nach neuen Richtungen als auch Ausprägungen des gesellschaftlichen Lebens hinweist. Davon betroffen sind Kontexte der Arbeitswelt, die davon unmittelbar berührt werden. Der zentrale Inhalt ist dabei fortwährend die Auseinandersetzung mit dem Lebenssinn und dem gesellschaftlichen Sinn. Die Sinnhaftigkeit und -orientierung fragt in diesem Zusammenhang nach einer menschwürdigen, lebenswerten und gerechten Gesellschaft, also nach Aspekten, denen allgemeingültig Gutes oder Richtiges zugesprochen werden kann:

„(…) ihre Differenzierung in soziokulturelle Klassen ruft die Frage nach dem auf den Plan, was kulturell für alle gilt und gelten sollte. Dieser soziale Wandel lässt die Frage dringlich werden, was zu gemeinsamen Bezugspunkten des Wertvollen werden könnte – sei es in einer Stadt oder einer Region, einem Nationalstaat, einem supranationalen Kontext wie der Europäischen Union und am Ende der Weltgesellschaft. Die Frage nach dem, was für alle unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu ethnischen, religiösen oder soziokulturellen Gruppen sowie von ihren individuellen Lebensstilpräferenzen kulturell wertvoll ist, ist jedoch die nach dem Allgemeinen.“ (Reckwitz 2019, 57)

Für die Frage nach der Sinnorientierung stellt sich also die gesellschaftliche Frage sowie Definitionsarbeit: Was ist wertvoll, was ist das Allgemeine, was ist das Gute? Weiter lässt sich nach einer Struktur einer individualisierten Gesellschaft fragen. Trotz aller Individualisierung bleiben Themen wie Verbundenheit, Gemeinschaft und die Frage nach dem Kollektiv weiterhin Bestandteile von Gesellschaft und Organisationen, überall dort, wo Menschen als Gruppen zusammenkommen und sich verbinden. Neben der Frage nach dem Allgemeinen, dem Guten und dem Wertvollen, stellt sich die Frage nach dem Kerngeschäft der Wirtschaft, welches ursprünglich durch die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen zu beschreiben ist. Bei den gesellschaftlichen Aspekten der Sinnorientierung stellt sich also die Frage nach der Reorganisation der Ökonomie im Kontext von Arbeit, Gesellschaft, Mensch, Planeten und den damit verbundenen Herausforderungen sowie Entwicklungen, die den menschlichen Bedürfnissen eher im Weg stehen, als sie gesamtheitlich zu befriedigen. Die zentralen Fragen richten sich also nach der Verantwortung:

  • Wer übernimmt dabei Verantwortung?
  • Wie lässt sich Verantwortung verteilen?
  • Für was wird ganz konkret Verantwortung übernommen? Die Welt als Ganzes wird es nicht sein.
  • Was ist gesellschaftliche, organisationale Verantwortung?
  • Welche Strukturen und Bedingungen benötigt Verantwortung, also DU, ICH und WIR, um in diesen Rahmenbedingungen überhaupt Veränderungen bis hin zu Transformationen vollziehen zu können?
  • Und noch viel zentraler: Wohin denn jetzt überhaupt? Ein Anhaltspunkt von Seiten der UNESCO.

Und jetzt?

Wenn wir über Sinnorientierung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nachdenken möchten, steht die Frage nach dem Allgemeinen, dem Guten, dem Richtigen, dem Zukunftsorientierten im Mittelpunkt und der damit verbundene Annäherungsprozess, auf welche Gemeinsamkeiten wir unsere Gesellschaft der Singularitäten überhaupt synchronisieren möchten und auch können. Spätestens für diesen Prozess wäre es hilfreich, hätten wir eine solch tiefgreifende und demokratisierte Gesellschaft und demokratisierte Organisationen, denn Beteiligung und Konfliktfähigkeiten sind nicht nur die Säulen der Sinnorientierung – der Aufbruch der Unternehmensdemokraten ist also 2021 noch genauso akut und relevant wie bereits zur Veröffentlichung des Buches im Jahre 2015. Wir bleiben dran, aus tiefer Überzeugung gegenüber dem Konzept der Demokratie. JETZT, für unsere Gegenwart und auch in Zukunft.

Herzliche Grüße zum Wochenstart!
Paul

 

Quellen

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2019): Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit 2017. [Online im Internet] URL: https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitswelt-und-Arbeitsschutz-im-Wandel/Arbeitsweltberichterstattung/Kosten-der-AU/pdf/Kosten-2017.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [zuletzt abgerufen am 06.04.2020].

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2019): Zahlen und Fakten der Psychiatrie und Psychotherapie. [Online im Internet] URL: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154e18a8cebe41667ae22665162be21ad726e8b8/Factsheet_Psychiatrie.pdf [zuletzt abgerufen am 06.04.2020].

Hardering, F., Will-Zocholl, M. (2015): Die Krise des Sinns in der Arbeit? „Sinnvolle Arbeit“ als Gegenstand soziologischer Krisendiskurse, in: Stephan Lessenich (Hrsg.): Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014, S. 1-11.

Handelsblatt (2019): Sparer verlieren 648 Milliarden Euro durch Niedrigzinsen. [Online im Internet] URL: https://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/geldpolitik-sparer-verlieren-648-milliarden-euro-durch-niedrigzinsen/24341874.html [zuletzt abgerufen am 17. Mai 2020].

Rockström, J., Steffen W., Noone, K., Persson, Å, Chapin, F. S, Lambin, E., Lenton, T. M., Scheffer, M., Folke, C., Schellnhuber, H., Nykvist, B., De Wit, C. A., Hughes, T., Van der Leeuw, S., Rodhe, H., Sörlin, S., Snyder, P. K. Costanza, R., Svedin, U. Falkenmark, M., Karlberg, L. Corell, R. W., Fabry, V. J., Hansen, J., Walker, B. Liverman, D., Richardson, K. Crutzen, P. and Foley, J. (2009): Planetary boundaries: exploring the safe operating space for humanity, in: Ecology and Society, 14(2), 32. [Online im Internet] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ [zuletzt abgerufen am 04.04.2020].

Hopkins, R. (2014): Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen. München: oekom.

Jacobi, F., Höfler, M., Strehle, J., Mack, S., Gerschler, A., Scholl, L., Busch, M. A., Maske, U., Hapke, U., Gaebel, W., Maier, W., Wagner, M., Zielasek, J., Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH), in: Der Nervenarzt, 85, S. 77–87.

Jörissen, J., Kopfmüller, J., Brandl, V. (1999): Ein integratives Konzept nachhaltiger Entwicklung. [Online im Internet] URL: http://digbib.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/fzk/6393/6393.pdf [zuletzt abgerufen am 06. April 2020].

Laloux, F. (2019): Stell dir vor es gäbe keine Werbung – Frédéric Laloux Autor von Reinventing Organizations. [Podcast] URL: https://arbeitsphilosophen.podigee.io/66-neue-episode [zuletzt abgerufen am 06.04.2020].

Les Convivialistes (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: transcript Verlag.

Netzwerk Grundeinkommen (2020): Die Idee. [Online im Internet] URL: https://www.grundeinkommen.de/grundeinkommen/idee [zuletzt abgerufen am 08.04.2020].

Paech, N. (2012): Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: oekom

Plöger, P. (2011): Einfach ein gutes Leben: Aufbruch in eine neue Gesellschaft. München: Hanser

Reckwitz, A. (2019): Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.

Sandel, M. J. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls: Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Schumacher, E. F. (2013): Small is beautiful: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. München: oekom

Schnell, T. (2016): Psychologie des Lebenssinns. Heidelberg: Springer.

Statistisches Bundesamt (2018): Statistisches Jahrbuch 2018. [Online im Internet] URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/statistisches-jahrbuch-2018-dl.pdf?__blob=publicationFile [zuletzt abgerufen am 17.04.2020].

Welzer, H. (2013): Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: S. Fischer.

WirtschaftsWoche (2020): Du musst mir vertrauen! [Online im Internet] URL:  https://www.wiwo.de/my/politik/deutschland/vertrauenskrise-du-musst-mir-vertrauen/25643764.html?ticket=ST-4294275-b6KC5tb7aK14PGMjlmBt-ap1 [zuletzt abgerufen am 17. Mai 2020].

Bildnachweis

Beitragsbilder: Dimensionen Lebenssinn von Tatjana Schnell (Universität Innsbruck) – eigene Darstellung und eigenes Foto: unternehmensdemokraten / Paul Carduck

Weiterführende Literatur

Purpose. Ist das Kunst oder kann das weg? (Teil 1)

Was ist Sinn? Herkunft und (moderne) Konzepte. (Teil 2)

Die Bezugsebene Mensch in der Purpose-Diskussion (Teil 3)

[1] Aufgrund der möglichen Tiefe und weitreichenden Forschungsergebnisse sowie Definitionsmöglichkeiten im Bereich der Nachhaltigkeitswissenschaft wird an dieser Stelle aufgrund des inhaltlichen Schwerpunkts auf weitere Ausführungen verzichtet, welche das theoretische Konstrukt der Nachhaltigkeit/Nachhaltigen Entwicklung weiter ausführen könnte. Außerdem wird auf die weitere Debatte rund um das Thema der Nachhaltigkeitskonzepte verzichtet und im Kontext der Angewandten Nachhaltigkeit als Basiswissen vorausgesetzt.

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