Wirtschaftswachstum scheint das ewige Mantra zu sein. So ziemlich jedes Unternehmen will wachsen, manche mehr, manche weniger. Einmal gegründet, soll auf alle Lebenszeit die Kurve verschiedener Wachstumsindikatoren möglichst steil nach oben zeigen. Das provoziert wichtige Fragen: Müssen Unternehmen immer weiter wachsen? Welche Formen von Wachstum gibt es? Welche Kollateralschäden erzeugt das fortlaufend angestrebte Wachstum? Gibt es Alternativen? Vor allen anderen Fragen aber diese: Wie wollen wir die Klimakrise in den Griff kriegen, wenn wir dieses zentrale Merkmal unserer Wirtschaft nicht endlich kritischer reflektieren?
Und ewig grüßen die Grenzen
Vor nunmehr einem halben Jahrhundert (!) erschien “Die Grenzen des Wachstums“, wohl eines der bis heute wichtigsten Bücher zur längst omnipräsenten Klimakrise. Der Club of Rome gab damals die Studie beim Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Auftrag, so dass eine Forschergruppe um die US-amerikanische Umweltwissenschaftlerin Donella Meadows und ihren Ehemann, den Ökonom Dennis L. Meadows, diese Arbeit übernahm. Auch wenn wir heute wissen, dass einige der damaligen Ergebnisse und Prognosen falsch waren — zB verfügen wir über mehr fossile Energieträger, als wir noch nutzen können, sofern wir die weitere Erwärmung stoppen wollen — so lag die Studie im Großen und Ganzen doch richtig. Was irgendwie auch trivial ist:
Wie soll ein begrenztes ökologisches System unbegrenztes materielles Wachstum ermöglichen?
Aber so sind wir. Sei etwas noch so offensichtlich, seit der Aufklärung müssen wir es doppelblind-randomisiert mit Studien untermauern. Nun gut. Mittlerweile wissen wir: Die Klimakrise mit ihren zukünftig deutlich zunehmenden negativen Auswirkungen ist längst da. Übrigens: Natürlich waren Meadows und Kolleg:innen nicht die einsamen Rufer:innen in der Wüste. Nur zwei Jahre später erschien beispielsweise der Herausgeberband “Wirtschaftspolitik in der Umweltkrise. Strategien der Wachstumsbegrenzung und Wachstumsumlenkung” (Wolff 1974)[1]. Wie es sich gehört, wenn ein Paradigmenwechsel (vgl. Kuhn 1962) der Elefant im Raum ist, gab es umgekehrt auch bald kritische Stimmen: “Wenn das Wachstum als Ziel der Politik aufgegeben werden würde, müsste man auch die Demokratie aufgeben. … Die Kosten für ein absichtliches Nicht-Wachstum in Bezug auf die politischen und sozialen Veränderungen, die dafür in der Gesellschaft vollzogen werden müssten, wären astronomisch hoch.” (Beckermann, W. 1974: 100f).
Damit kommen wir zu einer der zentralen Fragen, wie wir auf diese Misere auch nur halbwegs angemessen reagieren können:
Welche Alternativen haben wir zum vorherrschenden Paradigma des Wirtschaftswachstums?
Etwas provozierender: Wie lösen wir unsere kollektiv kapitalistische Obsession zum Wirtschaftswachstum auf? Das ist freilich eine bewusste Formulierung. Denn so, wie wir dieses Thema vor allem seit den 1980ern (Reagan und Thatcher, Reagnomics & Thatcherismus) global auf Koks und Steroide gesetzt haben (Subprime-Blase, Hochfrequenzhandel…), hat es nur noch begrenzt etwas mit rationalen ökonomischen Überlegungen zu tun. Zumindest sobald wir über die nächste Quartalsbewertung und Unternehmensgrenzen hinausblicken und eine ebenso langfristige wie vernetzte Perspektive in den Blick nehmen. Dabei ist bis heute, Stand Februar 2022, klar: Selbst die “große Transformation”, die nun immer öfter teils in bewusster Anspielung auf Polanyis Meisterwerk ausgerufen wird, stellt das Wirtschaftswachstum nicht grundsätzlich in Frage.
Es soll halt nachhaltig sein (oder irgendein anderes, beliebiges zeitgeistiges Attribut). Allerdings wird dabei schnell klar, dass wir damit munter weiter vor die Wand fahren: Wenn alle bislang wirtschaftlich noch nicht so weit entwickelten Länder und Regionen, allen voran China, Indien und später Afrika und Lateinamerika auf unser Niveau (EU, USA, Kanada…) kommen wollen (ein ebenso verständlicher wie berechtigter Wunsch, gerade auch zur sozialen Entwicklung) und wir auch noch generell weiter wachsen wollen (und nicht nur in bestimmten Branchen, zB erneuerbare Energien), pulverisieren wir erfolgreich so ziemlich alle klimatischen Ziele, die uns noch ein “gutes Leben für alle in den planetaren Grenzen” ermöglichen würden. Es gilt also, dieses irrwitzige Tabu zu brechen und gemeinsam intensiver und innovativer über die Rahmenbedingung des Wachstums nachzudenken.
Wirtschaftswachstum: Welches?
Zunächst sollten wir volkswirtschaftliches Wachstum, bislang mit dem Bruttoinlandsprodukt[2] gemessen, vom Wachstum individueller Unternehmen unterscheiden. Unsere nationale, supra-nationale (EU) und globale (EMEA, AMER & APEC) Wirtschaft kann wachsen, während zweifelsfrei viele Unternehmen stagnieren, schrumpfen oder gar insolvent gehen. Genauso ist ein umgekehrtes Verhältnis nicht nur denkbar, sondern hat schon stattgefunden. In Folge der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 stürzte die globale Wirtschaft von einem realen BIP von 5,56% in 2007 auf -0,07% in 2009 ab (Statista). Im selben Jahr verzeichnete hingegen beispielsweise Apple das erfolgreichste 4. Quartal seiner Firmengeschichte. Und so kam es in Summe zu ungefähren 2.000.000.000.000 (Billionen) US Dollar an Konjunkturprogrammen, um das eingebrochene Wachstum wieder anzufeuern. Bekanntermaßen vorwiegend auf Kosten der gemeinen Bürger:innen, während die Verantwortlichen der Subprime-Blase und der vorherigen Deregulation (Aufhebung des Glass-Steagall Act durch Bill Clinton 1999) profitierten. Aber um dieses Problem der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten soll es hier nicht gehen.
Im Folgenden einige wenige, je kurz skizzierte Wachstumstreiber und Alternativen. Ich habe dabei keinerlei Anspruch an Vollständigkeit. Es ist offensichtlich, dass Wirtschaftswachstum ein äußerst komplexes und vielschichtiges Thema ist. Ich verstehe diesen Beitrag als Versuch einer Annäherung.
Wachstumstreiber
Bei den Wachstumstreibern werden gemeinhin zwei Kategorien unterschieden: Interne, die im Unternehmen selbst verortet sind und externe, die außerhalb liegen. Im Folgenden einige beispielhafte Treiber.
Interne Wachstumstreiber
Gründungs-Phase: Jedes Unternehmen wurde und wird irgendwann gegründet. Es muss von diesem Moment an zwangsläufig wachsen bis die Gewinnschwelle(n) überschritten wird/werden. Sofern Startups durch Investoren finanziert werden, verschärft sich der Wachstumszwang mitunter deutlich. Denn dann kommen die Renditeerwartungen der Investor:innen hinzu. Je nachdem, welche Strategie die Investoren verfolgen, kann es zu einem besonders starken Wachstumszwang kommen, um diese Renditeerwartungen zu erfüllen. Sofern von Seiten der Gründer:innen und/oder der Investor:innen ein Exit angestrebt wird, also der gewinnbringende Verkauf, geht es zumindest auch und in nicht wenigen Fällen ausschließlich darum, durch die Gründung und den Aufbau des Unternehmens bis zum Exit maximal schnell und viel zu wachsen. In diesen Fällen ist das schnelle und möglichst weitreichende Wachstum Programm und der Zweck des gesamten Prozesses. Somit geht es explizit nur um Wachstum und ein wachstumsneutrales Konzept wird rundherum abgelehnt.
Finanzierung: Die meisten Unternehmen müssen früher oder später Kapital aufnehmen, um irgendeine Investition zu tätigen. Das kann der Kauf erster oder neuerer Maschinen sein, die Finanzierung der Personalkosten gerade am Anfang oder auch in Krisensituationen (so wie bei einem unserer Kunden in der Coronazeit) oder um die Kosten einer Übernahme zu stemmen und dergleichen mehr. Diese Kapitalaufnahme kann dann – je nach Situation – einen zwingenden Wachstumsprozess in Gang setzen, sofern mit der aktuellen Größe nicht ausreichend Umsatz erwirtschaftet wird, um den Kredit sowie die Zinsen zuzüglich der sonstigen Betriebskosten zu bedienen. Dabei sollte unterschieden werden, ob dieses Fremdkapital entweder dazu dient, innerhalb der bestehenden Größe zu investieren (Reparaturen, Austausch von Produktionsmitteln etc.) oder ob es explizit zu Wachstumszwecken eingesetzt wird. Bei Aktiengesellschaften kommt hinzu, dass in vielen (den meisten?) Fällen von den Anteilseigner:innen fortlaufende Investitionen erwartet werden, die bei plangemäßem Verlauf über lange Sicht zu einer Steigerung des Gewinns und damit zur Erhöhung der Dividende und des Aktienwertes führen. Gleichzeitig steht aufgrund der Renditeerwartung der Anteilseigener:innen (die möglicherweise zudem noch fortlaufend steigt) weniger Eigenkapital für Investitionen zur Verfügung, sodass der Bedarf nach externem Kapital steigt und damit den Wachstumszwang weiter anheizt.
Größenvorteile: Durch eine Fixkostendegression sinken die Kosten pro Stück, so dass sie billiger verkauft oder höhere Gewinne erwirtschaftet werden können. Ebenso können bessere Einkaufspreise durch die Abnahme größerer Mengen erzielt werden. Hinzu kommt, dass der Zugang zu manchen Branchen/Märkten durch hohe Eingangshürden erschwert wird, die eine bestimmte Größe erfordern, sei es durch Bekanntheit, Lieferfähigkeit oder die Fähigkeit, Regularien zu erfüllen, die sich erst ab einer bestimmten Größe lohnen. Umgekehrt kann stagnierendes Wachstum dazu führen, dass weniger Eigenkapital für Investitionen und zur Pufferung von Risiken zur Verfügung steht, ebenso wie die Beschaffung von Fremdkapital nicht selten eine bestimmte Größe voraussetzt. Ganz allgemein ist Größe hilfreich zur Einflussnahme auf den Markt und seine Akteure, sei es durch potentere Marketingmaßnahmen (auf Kunden oder neue Mitarbeiter:innen ausgerichtet) und Lobbyarbeit. Nicht zu unterschätzen sind auch die Vorteile, die durch immer gewieftere Steuerkanzleien möglich werden, die ihrerseits aber eine entsprechende Zahlungsfähigkeit ihrer Kunden voraussetzt, um (halb)legale Steueroptimierungen zu ermöglichen (zum Beispiel durch die bekannten Verschiebungen von Gewinnen und Verlusten oder angeblichen Zentralen in niedrig besteuernden Ländern). Letztlich kann Größe Aktiengesellschaften vor feindlichen Übernahmen sichern.
Anreizsysteme: Die bekannte, immer noch in vielen Unternehmen genutzte Verbindung von Zielvereinbarungen an variable Vergütungsanteile sorgt insbesondere im Vertrieb dafür, das die dortigen Mitarbeiter:innen naheliegender Weise ein großes Interesse haben, ihre Verkaufszahlen zu maximieren und damit für Wachstum zu sorgen. Nicht weniger wichtig ist die Kopplung von Bonuszahlungen des Topmanagements an den Aktienkurs bzw. die Entwicklung des Wachstums im Allgemeinen. Vorstände und Geschäftsführer:innen verbessern ihr Gehalt, indem sie den Aktienkurs nach oben treiben, und sei es nur durch den Aufkauf eigener Aktien (wenngleich dies keineswegs automatisch dem Wachstum dienen muss) oder anderer Unternehmen, um so möglichst schnell ein Wachstum hinsichtlich verschiedener Indikatoren zu realisieren.
Karrierewünsche: In den letzten Jahrzehnten war für viele Menschen eine erfolgreiche berufliche Karriere für ein gelungenes Leben wichtig. Karriere konnte dabei natürlich vielfältig definiert werden, aber sicherlich bestand ein häufiges Verständnis darin, auf der Karriereleiter des Arbeitgebers immer weiter aufzusteigen. Das setzt aber voraus, dass es ausreichend viele hierarchische Stufen gibt, die die Mitarbeiter:innen ins Auge fassen können, um ihre Karriereabsichten zu realisieren. Nun ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Unternehmen wächst, um eine möglichst hohe Karriereleiter aufzubauen und damit die Belegschaft zu binden und neue Mitarbeiter:innen anzuziehen. Aber wenn es erst einmal mehr als nur zwei, drei Hierarchiestufen gibt, kann die über Jahre etablierte Karrierekultur die Wachstumsabsichten stabilisieren und damit ebenfalls ein Treiber sein.
Externe Wachstumstreiber
Volkswirtschaftliches Leitnarrativ: Über die letzten Jahrzehnte hat sich das Narrativ von der Not-Wendigkeit des Wirtschaftswachstums erfolgreich in den meisten Köpfen von Volkswirtschaftler:innen und Politiker:innen verfestigt. Die Annahme, dass (nationales) Wirtschaftswachstum für das Gedeihen der Gesellschaft die unbedingt Voraussetzung ist, hat den großen Vorteil, beeindruckende Erfolge belegen zu können und damit Kritiker:innen in die Schranken zu weisen. Der Siegeszug der indikatorischen Simplifizierung in Form des Bruttosozialprodukts und später des Bruttoinlandprodukts (BIP) als Messinstrument für das Wirtschaftswachstum hat weiter dazu beigetragen, das Wachstum zunehmend alternativlos erschien und von den politischen Entscheider:innen entsprechend gefordert und gefördert wurde. Später untermauerten verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Akteure diverser neoliberaler Schulen (Chicago School, Genfer Schule) das Wachstumsparadigma, indem Sie nicht nur für den freien internationalen Handel und dessen Absicherung kämpften, sondern auch den Sinn von Unternehmungen auf deren Geschäftstätigkeit reduzierten, verdichtet in dem berühmten Diktum Milton Friedmans (vgl. Slobodian 2019)
Homo oeconomicus: Eng verbunden mit diesem volkswirtschaftlichen Leitnarrativ ist das Menschenbild des Homo oeconomicus. Adam Smith skizzierte das erste mal dieses Modell des Menschen und seines Verhaltens, hatte es aber noch deutlich erweitert und relativiert um soziale und ethische Aspekte wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Edelmut und Gemeinsinn. Später verkürzte John Stuart Mill dieses Beschreibung, indem er feststellte, dass die politische Ökonomie den nach Reichtum strebenden Menschen zur Grundlage macht. William Stanley Jevons versuchte die “… Wirtschaft eines Landes auf ähnliche Weise zu modellieren [wie Newton die physische Welt, AZ], indem er die ökonomische Aktivität auf den »einzelnen Durchschnittsmenschen [zurückführte] … aus welchem als Einheit die Bevölkerung zusammengesetzt ist«.” (Raworth 2018: Kapitel 3, Abschnitt “Die Geschichte unseres Selbstportraits”). Dazu machte er den Homo oeconomicus noch mehr zu einem berechnenden Menschen, der zu seiner Eigennutzenmaximierung permanent die eigenen Optionen abwägt und schließlich rational-berechnend entscheidet. In den 1920ern dichtete der Ökonom Frank Knight dem Wirtschaftsmenschen noch vollkommenes Wissen und ebensolchen Weitblick hinzu. Diese Reduktion von uns Menschen und die Zuschreibung von erfundenen Superkräften (vollkommenes Wissen) ist zwar längst widerlegt, spielt aber erstens in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung und Theorieentwicklung weiter eine wichtige Rolle. Zweitens beeinflusst dieses Menschenbild nachweislich die Verhaltensweisen von Menschen. Wer selbst nur kurzfristig die Eigenschaften des Homo oeconomicus vermittelt bekommt, verändert schließlich die eigenen Verhaltensweisen in Richtung dieses Modells. So sind zB Wirtschaftsstudent:innen stärker korrumpierbar als die anderer Studienfächer (Frank & Schulze 2000), tolerieren in höheren Semestern eher eigennütziges Verhalten und zeigten sich weniger großzügig (Wang et al. 2011).
Wirtschaftspolitik: Seit Jahrzehnten von Ökonomen und Ihren Modellen und Theorien beeinflusst, setzen Politker:innen diese entsprechend um. Sie sorgen für Regularien und Anreize, um das jeweilige nationale Wirtschaftswachstum zu maximieren und verbreiten ihrerseits das Mantra vom Heil des Wirtschaftswachstums, das sie als alternativlos darstellen. So ist es nicht verwunderlich, dass in so ziemlich allen großen Medien das Wirtschaftswachstum regelmäßig thematisiert wird und wir andauernd von Prognosen und ihren Korrekturen penetriert werden. Ebensowenig überrascht es, dass Wirtschaftswachstum eines der ganz wenigen Themen ist, das von allen Parteien des gesamten Spektrums als notwendige Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts und Wohlstands verstanden wird. Unterschiede gab und gibt es nur im Wie, aber nicht in der Frage, ob wir dieses Paradigma grundsätzlich in Frage stellen und gemeinsam auf seine Zukunftstauglichkeit prüfen sollten. Die britische Ökonomin und Entwicklerin der Donut-Ökonomie, Kate Raworth, bringt es gut auf den Punkt: “Und so wurde im Laufe eines halben Jahrhunderts das BIP-Wachstum von einer politischen Option zu einer politischen Notwendigkeit und de facto auch zu einem politischen Ziel. Sich mit der Frage zu beschäftigen, ob weiteres Wachstum immer wünschenswert, notwendig oder auch möglich war, wurde irrelevant oder glich politischem Selbstmord.” (Raworth 2018: Kapitel 1, Abschnitt “Der Kuckuck im Nest”).
Steuerpolitik: Einer der stärksten Hebel zur Befeuerung des Wachstums ist die Gestaltung des Steuerrechts. Einerseits sollen Unternehmen maximal entlastet werden, um Standorte für Unternehmen attraktiv zu machen und so die lokalen/regionalen Vorteile prosperierender Unternehmen abzuschöpfen: Das heißt vor allem eine gute Beschäftigungslage und zweitens Steuern, um damit wiederum die nötige öffentliche Infrastruktur bereitzustellen und aufrechtzuerhalten. Dafür nähern sich manche Länder sogar bereitwillig der nationalen Selbstausbeutung, indem sie die Steuersätze deutlich unter 20% senken (zB Irland 12,5%, Ungarn 9%. Statista). Zur Zeit dient die Steuerpolitik eindeutig nicht einmal einem ökologisch-nachhaltigen Wachstum. Zusätzlich ist die Besteuerung der natürlichen Personen ein wichtiger Aspekt, der Wachstum antreiben kann. Je weniger progressiv die Besteuerung erfolgt, desto mehr lohnt es sich, Kapital zu akkumulieren und das eigene Vermögen aufzubauen. Besonders dann, wenn anschließende Erbschaften nicht oder nur geringfügig besteuert werden. Geringe und wenig progressive Spitzensteuersätze korrelieren zudem mit größerer finanzieller Ungleichheit und zwar weltweit (vgl. Piketty 2020).
Vollbeschäftigung: Einer der wichtigsten Indikatoren neben dem BIP ist die Beschäftigungslage bei der Erwerbsarbeit. Ähnlich hypnotisch wie die fortwährenden Wachstumszahlen dürfen wir uns der Arbeitslosenstatistiken erfreuen und wie sie sich zum Vergleichsmonat ein Jahr zuvor entwickelt haben. So wie unsere Wirtschaft aktuell konstruiert ist, liegt es nahe, Wachstum mit (bezahlten) Arbeitsplätzen gleichzusetzen, die wiederum die Voraussetzung für individuellen Wohlstand sind. Für alle, die mit Arbeitslosengeld ALG I oder gar II (vulgo: Hartz IV) klarkommen müssen, ist das kein Spaß. So gesehen ist es zweifelsfrei im Sinne des Gemeinwohls erst mal richtig und sinnvoll, dafür zu sorgen, dass wir möglichst viele Arbeitsplätze auf dem Arbeitsmarkt anbieten können (gleichwohl schon Polanyi (1948) die Problematik analysierte, die aus der Schaffung von Arbeit als Ware resultiert, die wir auf dem Arbeitsmarkt verkaufen). Wie wichtig Arbeitsplätze sind, wird jedesmal aufs Neue klar, wenn Unternehmen in diversen Zusammenhängen mit Standortschließungen und dem Abbau von Arbeitsplätzen drohen. Diese Taktik wird umso wirkungsvoller, je größer das Unternehmen ist.
Konkurrenz: Belebt den Markt. Führt aber auch schnell dazu, dass sich die Führungsspitze der jeweils konkurrierenden Unternehmen gezwungen sieht, an verschiedenen Stellschrauben zu drehen, um bestehende Kunden weiter zu binden und neue zu gewinnen. Das führt meist zu Innovationen, der Ausdehnung der Angebotspalette, Lieferfähigkeit oder des Service. Eine weitere Option besteht darin, Preise zu senken, was häufig wiederum mit gesteigerter Produktion einhergeht, um die Fixkostendegression zu nutzen (s.o.). Ärgerlicherweise nimmt aber mit zunehmender Unternehmensgröße und -alter sowie den damit verbundenen internen systemischen Zwängen die Innovationskraft ab (vgl. Christensen 2011). Dem begegnen gerade multinationale Konzerne gerne mit Startup-Shoppingtouren, wie Facebooks mit seinen erfolgreichen Akquisitionen von WhatsApp und Instagram. Die nötigen Innovationen, um konkurrenzfähig zu bleiben, werden nicht mehr selber erfunden und mühsam entwickelt, sondern fortlaufend dazu gekauft.
Substituierender Konsum: Damit meine ich einen Konsum seitens der individuellen Konsument:innen, der dazu dient, verschiedene psychische Defizite auszugleichen. Es ist ein Konsum, bei dem es gar nicht um das eigentlich Kaufobjekt geht, sondern um eine psychische Funktion. Zum Beispiel der Konsum von Produkten, die einer sozialen Unterscheidung und Abgrenzung dienen (Statuskonsum: besonders teure oder im eigenen Milieu angesagte Produkte). Oder wenn der Akt des Kaufs eine Ersatzbefriedigung mit kurzer Halbwertszeit ist, so dass sich daraus ein suchtartiges Konsummuster ergibt (zB Fastfashion, verantwortungslos getriggert durch die Modeindustrie). Oder aufwändige Urlaubsreisen, um sich vom Hamsterrad der ungesunden Arbeit zu erholen und wieder arbeitsfähig zu werden. Und so weiter und so fort. All dieser Konsum geht infolge der Externalisierung der Kosten immer und zwangsläufig auch zulasten der Solidargemeinschaft. Wir alle tragen die Nebenkosten dieses (und jeden) Konsums mit. Wer besonders viel konsumiert, drückt seinen Mitbürger:innen besonders viele Kosten auf. Und weil das (noch) so ist und niemand den wirklichen Preis zahlen muss, führt der steigende Konsum zu mehr Wachstum. Das alles ist natürlich sehr verkürzt, denn es steht in engem Zusammenhang mit unseren gesellschaftlichen Werten und unserer konsumistischen Kultur, was hier aber den Rahmen sprengen würde.
Wirtschaftswachstum: Lösungen
Es gibt also viele Argumente für Wachstum. Es wäre naiv, einfach das alte Paradigma durch ein neues von Stagnation oder gar Schrumpfung ersetzen zu wollen. Wir müssen Schritt für Schritt schauen, wie wir die wenigen hier aufgeführten Wachstumstreiber und ihre Funktionen ersetzen oder neu gestalten können. Erfreulicherweise sind wir diesbezüglich nicht ganz blank. Es gibt bereits verschiedene Substitute oder alternative Konzepte, die teils schon längere Zeit erprobt sind. Genau so, wie es auch schon wachstumsneutrale Unternehmen gibt, die seit Jahren all den genannten Wachstumstreibern erfolgreich widerstehen und gesunde Bilanzen aufweisen (dazu vlt. später mehr in einem eigenen Beitrag. Denn der hier ist schon lang genug…).
Indikatoren gesellschaftlich
Es wäre ebenso übertrieben wie falsch, das BIP als Mutter allen Wachstums zu bezeichnen. Aber es spielt eine zentrale Rolle insofern, als dass wir das Verständnis unserer Wirtschaft kollektiv auf diesen einen Indikator reduziert haben. Andere Konzepte wie unser Sozialkapital spielen, wie wir gerade in der jüngsten Zeit erleben, eine mindest ebenso wichtige Rolle (Putnam 2000, Sandel 2020), werden aber durch das BIP nicht erfasst, sondern gewissermaßen exkommuniziert. Andere mögliche Indikatoren werden aus der Kommunikation über den wirtschaftlichen Fortschritt aus der Kommunikation ausgeschlossen. Es ist längst Zeit, das BIP entweder zu ersetzen oder zumindest durch andere Indikatoren zu ergänzen.
Genuine Progress Indicator: Dieser Indikator belässt es nicht bei der bloßen Messung der (Mehr)Produktion von Gütern und Dienstleistungen wie es mit dem BIP üblich ist. Denn wie schon in der Fußnote 2 dargelegt, geht aus dem BIP nicht im Geringsten hervor, ob seine Steigerung auch tatsächlich zum Wohlbefinden und der Zufriedenheit der Bevölkerung beiträgt. Dabei geht die Problematik natürlich weit über das in der Fußnote skizzierte Unfallszenario hinaus: Welche externen Kosten sind mit der Bereitstellung der Güter und Dienstleistungen verbunden? Welche Kollateralschäden müsse wir in die Rechnung mit aufnehmen? So stellt der GPI (Clifford et al. 1995), der “Echte Fortschrittsindikator” diese Kosten und unerwünschten Wirkungen mit in Rechnung.
Bruttonationalglück: Der Gros National Happyness Index wurde in Bhutan entwickelt und auch über die Anwendung dort bekannt. Er basiert auf den vier Säulen ökologische Nachhaltigkeit, nachhaltige und gerechte wirtschaftliche Entwicklung, Förderung eines freien und resilienten Kulturlebens und schließlich eine gute Regierungsführung und Gleichheit vor dem Gesetz. Es dürfte sofort klar werden, dass dies eine reichlich andere Betrachtungsweise ist, als die Reduktion auf ein BIP.
Indikatoren unternehmerisch
Gemeinwohlbilanz: Die im deutschsprachigen Raum zur Zeit wohl beste Ergänzung zur rechtlich vorgeschriebenen betriebswirtschaftlichen Bilanz. Durch die mit ihr verbundene Gemeinwohlmatrix wird eine Organisation entlang der Berührungsgruppen Lieferant:innen, Eigentümer:innen/Finanzpartner:innen, Kund:innen, Mitarbeitende/Mitunternehmen und gesellschaftliches Umfeld jeweils in Bezug auf die Kategorien Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz/Mitentscheidung bewertet. Dabei können Plus und Minuspunkte erworben werden. Maximal erreichbar sind 1000 Punkte, die eher einen Idealzustand beschreiben, der wohl kaum von einem Unternehmen je erreicht werden dürfte. Die Gemeinwohlbilanz wird schon seit Jahren von zunehmend mehr Unternehmen, NGO und öffentlichen Diensten angewendet. Das bekannteste Unternehmen ist seit Jahren die Sparda-Bank München. Dieses Instrument ist langjährig erprobt und kann auf freiwilliger Basis der normalen Bilanz schon heute solide zur Seite gestellt werden.
Interne Lösungen
Optimale Unternehmensgröße: Zur Zeit wird noch viel zu wenig über ein Optimum der jeweiligen Unternehmensgröße nachgedacht, obwohl die Frage danach alles andere als neu ist. So ging der Frage nach der optimalen Größe unter anderen auch schon der Wirtschaftsnobelpreisträger Ronald Coase nach (zB Coase 1937). Denn so, wie Wachstum zu Vorteilen führt (s.o.), so kann das Wachstum und die zunehmende Größe auch zu Nachteilen führen. Solange diese Risiken nicht mitgedacht werden, rennen wir relativ unreflektiert der Wachstumsmöhre hinterher, ohne die Nachteile in Rechnung zu stellen. Unter dem Begriff der diseconomies of scale werden verschiedene Probleme herausgearbeitet, die Folge einer zu großen Unternehmensgröße sind:
- Atmosphärische Konsequenzen – Mitarbeitende erkennen nicht mehr im ausreichenden Maß ihren Beitrag zum großen Ganzen und gehen deshalb auf Distanz (das könnte ein Grund für die mangelnde emotionale Bindung an den Arbeitgeber sein, den der Gallup Engagement Index jährlich diagnostiziert).
- Bürokratische Isolation – das Topmanagement arbeitet relativ entkoppelt von der Belegschaft, ohne ihnen ausreichend Rechenschaft zu schulden. Das kann dazu führen, dass dieser elitäre Personenkreis eher die eigene Bereicherung anstrebt als den Unternehmenserfolg.
- Anreizsysteme – die üblichen Verknüpfungen von Zielsetzungen und variablen Vergütungsanteilen und ähnliche Instrumente können schnell dazu führen, dass die betroffenen Personen ihre Ziele unbedingt erreichen wollen und sei es nur auf dem Papier.
- Informationsverfälschung – das hierarchische Reporting führt zwangsläufig zu einer fortlaufenden Verdichtung und Reduktion von möglicherweise vitalen Informationen. Am Ende kann dem Topmanagement relevante Informationen fehlen. In diesem Sinne kann es sehr hilfreich sein, gemeinsam mit der Belegschaft herauszufinden, was die je optimale Unternehmensgröße ist.
Bootstrapping/Eigenkapitalfinanzierung: Bootstrapping, also die Finanzierung ohne Fremdkapital von Startups ist ein bekanntes Mittel, um sich von externer Finanzierung unabhängig zu machen. Aber natürlich muss dieses Vorgehen nicht auf die Gründungsphase beschränkt bleiben, sondern kann zu einer fortlaufenden Finanzierungsstrategie werden, auch bei bereits konsolidierten Unternehmen mit mehreren Hundert oder Tausend Mitarbeiter:innen. Durch dieses Vorgehen entfallen die oben beschriebenen Wachstumszwänge und es ergibt sich automatisch ein wesentlich organischeres Wachstum als durch Fremdkapital. Damit sinkt natürlich auch das Risiko, in der Zukunft durch unglückliche, nicht vorhersehbare Entwicklungen die Tilgung des Kredits und seiner Zinsen nicht bedienen zu können.
Alternative Anreizsysteme: Zunächst mal sind herkömmliche Anreizsysteme durch ihre individuelle Ausrichtung auch über die Wachstumsproblematik hinaus problematisch, weil sie nicht die Kooperation der Belegschaft fördert, sondern vielmehr die individuelle Leistungserbringung teils auf Kosten einer gelungenen Kollaboration. Insofern sind ohnehin kollektive Anreize sinnvoller, weil sie eine erfolgreiche (effektive und effiziente) Zusammenarbeit voraussetzen. Bezüglich des Wachstums sind Anreizsysteme denkbar, die nicht einfach auf das quantitative Wachstum abzielen, sondern beispielsweise Qualitätsverbesserungen fokussieren. Oder die Reduktion von Abfällen. Oder sozial-ökologische Verbesserungen von Lieferketten. In diesem Sinne sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, Anreize anders zu denken und zu setzen, als gemeinhin üblich.
Reflexion der externen Kosten: Ein wesentlicher Grund für hemmungsloses Wachstum besteht in der völlig legitimen Externalisierung von Kosten: Ressourcenabbau, teils -raubbau, Verlagerung von Produktion in Billiglohnländer mit lausigen Arbeitsbedingungen, Emissionen (nicht nur CO2, sondern zB Nitrat durch enorme Güllemengen aus der industriellen Massentierhaltung etc.). All das und noch mehr ist nicht in die Produkte und Dienstleistungen eingepreist. Und genau deshalb ist schnelles und sehr weitreichendes Wachstum so problemlos möglich. Würden sich diese Kosten im Preis spiegeln, sähe die Welt mit Sicherheit sehr anders aus. Dann könnte wesentlich weniger konsumiert werden, als bislang. Insofern wäre es sinnvoll, wenn sich Unternehmen und ihre Belegschaften bewusst machen, welche externen Kosten sie erzeugen und an die Solidargemeinschaft abwälzen. Anschließend können Strategien für einen zukünftig anderen Umgang entwickelt werden.
Externe Lösungen
Menschenbild: Analog zu dem oben beschriebenen, Jahrhunderte alten wirtschaftlichen Leitnarrativ brauchen wir dringend ein anderes Bild von uns Menschen und eine andere Erzählung darüber. Auch hier hat die britische Ökonomin Kate Raworth hervorragende Vorarbeit geleistet. Sie widmet dieser Aufgabe eines neuen Bildes und Narrativs von uns Menschen gleich ein ganzes Kapitel: “Die menschliche Natur pflegen und fördern. Vorm rationalen ökonomischen Menschen zum anpassungsfähigen Menschen.” (Raworth 2018) Auch wenn ich das Attribut der Anpassungsfähigkeit nicht ganz trefflich finde, so analysiert sie doch in diesem Kapitel knapp und pointiert die Entstehung des Homo oeconomicus, um von dort aus ein neues Narrativ aufzubauen, das im übrigen auch viel mehr der Wirklichkeit unseres Menschseins entspricht und wissenschaftlich fundiert ist – im Gegensatz zu dem untoten Hirngespinst des Homo oeconomicus (vgl. auch Das Menschenbild in Zeiten digital-globaler Wirtschaft)
Nachhaltige Steuerpolitik: Im Grunde könnten wir ziemlich einfach ein staatliches Anreizsystem schaffen, mit dem wir sehr schnell ein sozial-ökologisch nachhaltiges Wachstum fördern würden. Dazu müsste lediglich die GWÖ-Bilanz vorgeschrieben und die Ergebnisse ans Finanzamt gemeldet werden. Daraufhin würde die Besteuerung entlang der bisherigen Kriterien + dem Ergebnis der GWÖ-Bilanz erfolgen. Sprich: Je besser ein Unternehmen abschneidet, desto geringer wird seine Steuerlast. Was sowohl gesamtwirtschaftlich wie gesellschaftlich ausgesprochen sinnvoll und fair wäre. Denn zur Zeit werden die ganzen externen Kosten (Umweltverschmutzung, Ressourcenausbeutung, gesundheitliche Schäden, Infragestellung demokratischer Prinzipien etc.) einfach dem Souverän, also uns allen, aufgebürdet, während die Gewinne weiterhin bei den Eigentümer:innen verbleiben.
Selektive Suffizienz: Unternehmen wirken sehr unterschiedlich auf die Gesellschaft und das ökologische System. Manche führen zu erheblichen Schäden, andere sind sehr wirksam dabei, die Klimakrise einzudämmen. Insofern müssen Unternehmen unterschiedlich bewertet und behandelt werden. Diejenigen Unternehmen und Branchen, die mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen, müssen abgebaut und reduziert werden. Aktuell passiert genau das mit der Kohleindustrie. Andere Unternehmen und Branchen sollten dagegen gefördert werden, wie – um beim Beispiel der Energiebranche zu bleiben – Hersteller und Betreiber erneuerbarer Energien. So werden einige Branchen und Unternehmen schrumpfen, andere wachsen.
Externe Kosten untersagen: So wie die einzelnen Unternehmen schon für sich das Thema auf die Agenda setzen könnten (und sollten), so könnte dieses Problem wiederum relativ einfach durch rechtliche Regulation gelöst werden. Diese Option hatte ich bereits hier im Blog kurz skizziert: “Heute schützt das Wettbewerbsrecht auch denjenigen Wettbewerb, der seinen Erfolg der Externalisierung von Kosten verdankt, und verhindert so die nachhaltige Entwicklung. Es ist am “freien Wettbewerb” orientiert, sollte aber den freien und nachhaltigen Wettbewerb schützen. Dazu müsste die Externalisierung von Kosten in die verbotenen Wettbewerbshandlungen nach §§ 3-4 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) aufgenommen werden.” (Scherhorn 2010.: 137f, kursiv im Original) Soweit äußerst kurz dargestellt. Weitere Infos dazu in meinem Beitrag Rahmenregulation für eine neue Wirtschaft.
Einmal mehr: Sowohl-als-auch
Wie so oft geht die Frage nach dem Entweder-Oder — Wirtschaftswachstum versus Stagnation/Schrumpfung — nicht nur am Kern der Sache vorbei (vgl.: Sowohl-als-Auch statt Entweder-Oder). Diese Gegenüberstellung und religionsartige Glaubensfrage nach dem einen oder anderen, verbunden mit der Aufforderung, sich selbst zu positionieren und zu erklären, verkleinert den möglichen Lösungsraum. Vielleicht ist diese Gegenüberstellung sogar ein probates Mittel, um einen dringend nötigen Lösungskorridor aktiv zu verbarrikadieren. Statt uns zu fragen, was denn nun richtig und gar wahr ist im Sinne des “guten Lebens für alle innerhalb unserer planetaren Grenzen”, öffnet uns ein Sowohl-als-Auch viel mehr Optionen. Vermutlich auch deshalb, da unser hyperkomplexes Gebilde aus Ökosystem, Gesellschaft und Wirtschaft keineswegs nur die eine oder andere Option alleine bietet.
Genau deshalb, da für komplexe, nicht-lineare Systeme Sowohl-als-Auch Lösungen funktionaler sind als Entweder-Oder Konzepte, ist die Donut-Ökonomie von Kate Raworth so trefflich. Es geht darum, eine agnostische Haltung zum Wachstum einzunehmen: “Ich verstehe agnostisch so, dass man sich bemühen sollte, eine Wirtschaftsordnung aufzubauen, die das menschliche Wohlergehen fördert unabhängig davon, ob das Bruttoinlandsprodukt steigt, fällt oder auf einem bestimmten Niveau verharrt.” (Raworth 2018: Kapitel 7) Wir können zur Zeit unmöglich vorhersagen, wie genau sich unsere Wirtschaft und ihr Wachstum, ihre Stagnation oder Schrumpfung zu allen anderen vitalen Parametern zukünftig verhalten wird. Es wäre vermutlich fatal, sich jetzt auf die eine oder andere Seite zu schlagen und einen Glaubenskrieg darüber anzuzetteln.
Alle Eigentümer:innen und Geschäftsführer:innen sollten deshalb beginnen, Ihr eigenes unternehmerisches Wachstum kritisch zu reflektieren, ohne sich gleich für die eine oder andere Seite zu entscheiden:
- Welche externen Nebenkosten und Kollateralschäden entstehen als Folge eines fortlaufenden Wachstums?
- Was ist eine gesunde Größe des Unternehmens, die eine Balance zwischen den nötigen sozialen Grundlagen und planetaren Grenzen ebenso ermöglicht, wie eine enkelsichere Zukunft des Unternehmens?
- Und als Grundlage des Ganzen: Was ist eigentlich der Sinn und Zweck des Unternehmens über den vordergründigen Geschäftszweck hinaus?
Zusammengefasst: Wir müssen (müssen!) uns lösen vom ehernen Paradigma des Wirtschaftswachstums. Stattdessen sollten wir unser aller Wohlergehen in den planetaren Grenzen ins Zentrum rücken und offen sein für Wachstum, Stagnation und Schrumpfen.
Herzliche Grüße
Andreas
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[1] Womit übrigens ein besonders problematisches Phänomen sichtbar wird: Die extreme Nachhaltigkeit der Nicht-Nachhaltigkeit (Blühdorn 2021). Wir diskutieren seit einem halben Jahrhundert wieder und wieder und wieder die sich immer weiter beschleunigende und intensivierende Klimakrise und versichern uns mittlerweile ihrer unbedingten Dringlichkeit. In diesem Zeitraum von fünf Jahrzehnten (!) können wir nicht nur keine Erfolge aufweisen, stattdessen hat sich unsere Lage signifikant verschlechtert. Dazu in einem späteren Beitrag mehr.
[2] Das Bruttoinlandsprodukt ist als vorwiegender Indikator ziemlich zweifelhaft. Das hatte sogar schon sein Entwickler, Simon Kuznet klargestellt, der zunächst das Bruttosozialprodukt konzepualisierte: Er ” … betonte, dass das Nationaleinkommen lediglich den Marktwert der Güter und Dienstleistungen ausdrücke, und wies darauf hin, dass dadurch der enorme Wert jener Güter und Dienstleistungen ausgeklammert werde, die im Alltagsleben in Haushalten oder durch die Gesellschaft erbracht werden. Zudem räumte er ein, dass diese makroökonomische Größe auch keine Aussage über die tatsächliche Verteilung von Einkommen und Konsum erlaube.” (Raworth 2018: Kapitel eins, Abschnitt “Der Kuckuck im Nest”) Darüber hinaus sagt das BIP auch nichts über die Qualität des Wachstums aus. Ein Unfall führt zum Beispiel zur Beauftragung eines Abschleppdienstes, einer Reparatur und dem Anmieten eines Leihwagens. Das ist für die Eigentümer:in des Wagens eher ärgerlich und kein Anlass zur Freude, da nun das BIP wächst, weil die zuvor genannten Dienstleister infolge des Unfalls Umsatz erzeugen.
Literatur
- Bakker, L.; Loske, R.; Scherhorn, G. (1999): Wirtschaft ohne Wachstumsstreben – Chaos oder Chance. Studien & Berichte der Heinrich-Böll-Stiftung Nr. 2. Heinrich-Böll-Stiftung.
- Beckermann, W. (1974): In Defense of Economic Growth. Jonathan Cape Ltd.
- Blühdorn, I. (2020): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. transcript
- Clifford, C.; Halstead, T.; Rowe, J. (1995): The Genuine Progress Indicator: Summary of Data and Methodology. Redefining Progress.
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