Teaser: Seit der Enthüllung der neonazistischen Deportationsphantasien der AfD gehen so viele Menschen wie lange nicht mehr auf die Straße, um für unsere Demokratie einzustehen. Das ist gut. Aber was macht uns jenseits eines solchen Engagements zu Demokrat:innen? Eine dialogische Spurensuche.
Andreas: Normalerweise beginnen alle Dialoge in diesem Blog mit meinen einführenden Fragen “wer bist Du, woher kommst Du, wohin gehst Du?” Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Dialogs möchte ich diese Fragen aber zurückstellen. Denn die dürften einiges damit zu tun haben, was eine Demokratin ausmacht. Also lass uns einfach damit beginnen, wie wir uns kennengelernt haben. Wie würdest Du das erzählen?
Melissa: Doch. Ich muss die Frage damit beginnen, woher ich komme. Denn sie ist die Ausgangssituation für die Eingangsfrage: Was macht Demokrat:innen aus?
Vielleicht hilft meine eigene Erfahrung dabei: Es begann alles damit, dass ich mich, begleitet vom latenten Weltschmerz – und mir ist bewusst, dass das Empfinden eines Weltschmerzes ein Privileg darstellt – gefragt habe: Wer bin ich? Was kann ich? Welche Werte sind mir wichtig? Und wo kann ich wirksam werden? Wie wollen wir leben? Wie sehen meine Beziehungen zu Anderen aus? All diese Fragen führten letztlich zur “Demokratie” und zu unserer Begegnung…
Andreas: Verstehe. Tja, und eines Tages erschien dein LinkedIn-Kommentar in meiner Timeline. Wie kam es dazu? Ich wurde auf einen kurzen Beitrag von Cawa Younosi, dem ehemaligen “Global Head of People Experience” bei SAP aufmerksam. Darin äußerte er die Idee, Unternehmen seien “nicht nur ein Raum der Produktivität, sondern auch ein Zentrum der Demokratieentwicklung.” Das musste ich als Gründer der unternehmensdemokraten umgehend kommentieren. Kurz darauf folgte eine Anmerkung von Dir, Melissa, auf meinen Kommentar. Mit dem Verweis auf das großartige Buch “Der arbeitende Souverän” des deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth. Das fand ich äußerst erfrischend, denn im Allgemeinen empfehle ich (un)gefragt anderen Leuten wichtige Bücher zur Demokratisierung der Arbeit und dem Problem der halbierten Demokratie, sprich: In der Zivilgesellschaft sollen wir bitte demokratische Haltung zeigen und uns möglichst weitgehend demokratisch verhalten, während wir in der Arbeit als abhängige Angestellte zumeist als sogenannte Verrichtungsgehilfen Arbeit auf Anweisung des Dienstherren erledigen – und uns bitte nicht in die Führung und Gestaltung des Arbeitgebers einmischen sollen. Nach Deiner Empfehlung stellte ich fest, dass wir seit gut einem Jahr vernetzt waren, jedoch ohne weiteren Austausch. Das hat sich seitdem geändert.
Melissa: Ja, die Idee, “Arbeit” als einen Sozialisationsraum für demokratisches Verhalten zu verstehen, indem sich Beschäftigte schon am Arbeitsplatz als vollwertige Mitglieder:innen eines demokratischen Gemeinwesen empfinden, musste erstmal bei mir gedeihen. Diese These ließ mir keine Ruhe mehr. Denn dabei kam ich zurück auf meine eigenen, für mich, einer der wichtigsten Werte: Verbindung und Freiheit.
Ich fragte mich, ist es gesellschaftlich möglich, diese “Freiheit in Verbundenheit” systematisch herzustellen? Und ich begann zu verstehen, dass Demokratie Beziehungsarbeit ist…
Andreas: Das finde ich äußerst interessant: “Freiheit in Verbundenheit” und “Demokratie als Beziehungsarbeit”. Ich bin ja schon länger der Auffassung, dass Demokratie bei jedem von uns in unserem Inneren beginnt. Das ist dann zunächst Beziehungsarbeit mit uns selbst. Ich nutze gerne für mich selbst und in Coachings mit meinen Kund:innen die Analogie des “inneren Teams”. Wir sind kein monolithisches “Ich”, das nur eine Perspektive kennt und ohne innere Widersprüche einen geradlinigen Weg durchs eigene Leben geht. Da beginnt meines Erachtens die demokratische Beziehungsarbeit mit uns selbst: Es gilt, die verschiedenen Blickwinkel und Bedürfnisse dieser verschiedenen inneren Anteile kennenzulernen, zu verstehen, wertzuschätzen und sie dann in eine gesunde, lebendige Balance zu bringen. Denn sie sind immer ein Teil von uns. Macht das Sinn für Dich und wie erlebst Du das? Und dann interessiert mich natürlich noch: Wie genau meinst Du das mit der “Freiheit in Verbundenheit”?
Melissa: Dein Ansatz, Demokratie im Inneren zu verorten und als Beziehungsarbeit mit sich selbst zu verstehen, spricht mir sehr aus der Seele. Die Analogie des “inneren Teams” ist äußerst passend und ich kann gut nachvollziehen, wie wichtig es ist, die vielfältigen Perspektiven und Bedürfnisse, beeinflusst durch verschiedene Kontexte, in uns selbst zu erkennen. Für mich bedeutet es auch gleichzeitig zu erkennen, was es bedeutet, “Mensch” zu sein.
Für mich ist Demokratie tatsächlich auch eine innere Haltung, die sich in der Art und Weise zeigt, wie wir mit unseren eigenen inneren Konflikten umgehen und dabei unsere eigene Vielfalt erkennen. Emotionale Intelligenz spielt dabei für mich eine entscheidende Rolle, da sie die Fähigkeit eines Menschen beeinflusst, in sozialen und politischen Kontexten zu interagieren. Hierbei kommt die Fähigkeit, eigene Emotionen zu verstehen und die Emotionen anderer zu erkennen, eine ganz besondere Bedeutung zu.
“Freiheit in Verbundenheit” sehe ich als die Möglichkeit, authentisch zu sein, ohne dabei die Verbindung zu anderen zu verlieren. In dieser Verbundenheit liegt für mich die Stärke und Besonderheit einer demokratischen Gesellschaft. Jeder Einzelne kann in seiner Einzigartigkeit und “Freiheit” existieren, während gleichzeitig ein respektvoller Austausch und eine gemeinsame Gestaltung des Miteinanders ermöglicht wird. Wie erlebe ich das persönlich? Ich fühle mich in der Vorstellung von “Freiheit in Verbundenheit” gestärkt und inspiriert. Es ermutigt mich, meinen Weg zu gehen, meine Überzeugungen zu vertreten, sie auch wieder fallen zu lassen und gleichzeitig die Verbindung zu anderen zu suchen, um gemeinsam eine vielfältige, respektvolle Gemeinschaft zu gestalten. Die Frage bleibt, wo wir diesen Prozess erleben und üben dürfen?
Andreas: Da steckt eine ganze Menge drin. da möchte ich erst mal die erste Hälfte kurz zusammenfassen: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Innere Vielfalt und Umgang mit eigenen inneren Konflikten und schließlich die Rolle von Emotionen sowie emotionaler Intelligenz. Das alles scheint mir die Grundlage für die Freiheit in Verbundenheit. Nun überlege ich, wann und wo Deine fundamentale Frage nach dem Mensch-Sein reflektiert wird? Ich kann mich nicht erinnern, dazu etwas in der tagesaktuellen Auseinandersetzung über Demokratie gehört oder gelesen zu haben. Dabei ist das doch eigentlich der Ausgangspunkt: Welches Bild vom Menschen machen wir uns? Dazu hatte ich vor einiger Zeit hier im Blog einen Beitrag veröffentlicht. Denn ich glaube, dass genau das zentral ist für unser Zusammenleben und die tägliche Arbeit. Ich will hier nur drei Aspekte herausheben: Erstens sind wir zutiefst soziale Wesen, die abhängig von anderen sind. Zweitens suchen wir Zeit unseres Lebens eine dynamische Balance aus Zugehörigkeit und Autonomie. Letztere ist die Grundlage für die Freiheit in Verbundenheit, die wir als soziale Wesen brauchen, um ein integres und psychisch gesundes Leben zu führen. Und dazu müssen wir unsere innere Vielfalt (an)erkennen und einen guten Umgang mit unseren inneren Konflikten finden. Was wiederum emotionale Intelligenz erfordert, uns selbst und anderen gegenüber.
Damit wir jedoch die Freiheit in Verbundenheit verwirklichen können, müssen wir unbedingt fähig sein, eigene Überzeugungen oder Vorstellungen wieder loszulassen, wie wir diese Überzeugungen umsetzen. Dazu müssen wir akzeptieren, das – und das ist der dritte Aspekt – unser Nichtwissen immer unser Wissen bei weitem übersteigt. Also braucht es Demut. Du stellst die wichtige Frage, wo wir all das erleben und üben dürfen: Sicherlich an ganz vielen Orten und in allen möglichen Momenten. Meines Erachtens ist die Familie die politische und demokratische Keimzelle. Welche Erfahrungen haben wir diesbezüglich gemacht? Wie wurden (nicht) alltägliche Entscheidungen getroffen? Gab es ein Familienoberhaupt, die oder der regiert hat? Oder konnten wir partizipieren? Auf dem Bildungsweg geht es dann weiter, Stichwort Schule. Und letztlich landen wir beim größten Sozialisationsraum von rund 45 Millionen Erwerbstätigen: Unsere Arbeit. Die ist aber so ganz und gar nicht demokratisch verfasst.
Melissa: “…sicherlich an ganz vielen Orten und in allen möglichen Momenten.” Ich bin mir nicht sicher, ob wir “Demokratie” an diesen Orten wirklich praktizieren, vielleicht teilweise, aber noch zu wenig. Spreche ich heute mit Menschen über Demokratie, wird darunter die Regierungsform verstanden. Ich würde hier gerne den kürzlich verstorbenen Soziologen und Philosoph Oskar Negt zitieren: „Demokratie ist die einzige staatlich organisierte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, und zwar Tag für Tag. Demokratie ist weniger eine Regierungs- als eine Lebensform, eine Angelegenheit des politischen Ethos.”
Im Zuge der AfD-Thematik habe ich teilweise Menschen erlebt, die sich zwar für die Demokratie aussprechen, aber nach außen hin als nicht aktivistisch gelten wollen. Ich habe mich dann gefragt: Wie kann man als aktivistisch gelten, wenn es gerade darum geht, die Grundlage unseres Zusammenlebens zu verteidigen und sich dafür auszusprechen: “Die Würde des Menschen ist unantastbar” Demokratie als Lebensform verweist auf unsere Menschenrechte, weil sie von der Gleichberechtigung aller Beteiligten in Interaktionen und Entscheidungen ausgeht. Deshalb sollten wir in Zukunft mehr Räume dafür bauen und die, die heute schon die Räume gestalten, sollten einen erweiterten Fokus auf dieses Thema setzen. Weiterhin reicht meines Erachtens die Gleichberechtigung alleine heute nicht mehr aus. Wir müssen viel mehr verstehen, dass Menschen andere Ausgangssituationen und Rahmenbedingungen haben, um Dinge tun zu können. Wir müssen mehr Gleichstellung praktizieren, also Menschen gleiche Chancen geben, individuelle Bedürfnisse erkennen und gleichzeitig Barrieren abbauen.
Ich habe oft das Gefühl, dass wir Menschen unterschätzen oder unterschätzen wollen. Das widerspricht mir.
Andreas: Bezüglich der Lern- und Entwicklungsräume für unsere Demokratie stimme ich Dir zu. Wir praktizieren vielleicht an vielen Orten zu unterschiedlichen Momenten, aber da geht noch viel mehr. Was ich damit sagen wollte, hast Du mit dem Zitat von Negt bestens auf den Punkt gebracht. Demokratie muss gelernt, geübt, aufrechterhalten und weiterentwickelt werden. Sie ist nicht im Geringsten ein Selbstläufer. Ich möchte klarstellen, dass es eben viel mehr Orte gibt, an denen Demokratie als Lebensform täglich stattfinden kann, wenn wir das nur wollen und den Blick darauf richten. Ich weiß nicht, ob mir die meisten Menschen zustimmen würden, dass Demokratie praktisch als erstes in der Herkunftsfamilie von uns allen erlebt und trainiert werden kann. Oder eben auch nicht. Ebenso auf unserem langen Bildungsweg und schließlich bei der Arbeit, die uns über Jahrzehnte dieses riesige Feld bietet, dass wir gemeinsam fruchtbar machen könnten, so dass wir gemeinsam die Früchte dieser Arbeit ernten. Wie weit weg wir von solchen Überlegungen sind, zeigt Deine kurze Erzählung von Menschen, die sich für unsere Demokratie aussprechen, aber Sorge haben, als aktivistisch gebrandmarkt zu werden. Gute Demokraten verstehen also Demokratie nicht nur als tägliche Lebensform in nahezu unendlichen Kontexten, sondern stehen auch mutig für sie ein.
Melissa: Ja, sie sollten dafür einstehen und sich auch mutig in den Prozess begeben, dass die Vielheit und Verschiedenheit auch eine gemeinsame Einheit bilden oder etwas Verbindendes herstellen kann. Vielleicht kann man es damit veranschaulichen, dass nicht nur jeder individuell auf das Große und Ganze einzahlt, sondern das Große und Ganze das Einzigartige bekräftigt. Es bedingt sich wechselseitig.
Andreas: Diese Wechselseitigkeit von individueller Vielfalt einerseits und einem gemeinsamen großen Ganzen scheint mir eine wesentliche Grundlage für Demokrat:innen zu sein. Das ist für mich eine Art logischer Struktur: Ein verbindendes Sowohl-als-Auch im Gegensatz zu einem trennenden Entweder-Oder. Ich glaube, dass wir viele auch demokratische Probleme heute nicht lösen können, weil wir oft, wenn nicht sogar meist, einer zweiwertigen Logik verhaftet sind: Entweder es ist so, oder es ist so. Ein auch für unser Thema wichtiges Beispiel ist der Streit, ob das Bewusstsein das Sein oder ob das Sein das Bewusstsein prägt. Eine Variante ist der Streit, ob unser Verhalten genetisch oder sozial bedingt ist. Aus meiner Sicht ist dieser Ansatz offensichtlich unsinnig. Beides trifft zu und es bedingt sich wechselseitig.
Melissa: Ja, die Zweiwertige Logik findet sich (leider) sehr oft wieder. Das Hinderliche dabei ist, dass wir uns dabei jeglichen Ermöglichungsräumen und Variablen verschließen. Das heißt, wir begrenzen uns und unsere Welt. Wir nehmen uns jeglichen (Spiel) Raum, der theoretisch präsent wäre. Demokrat:innen können diese Logik aufbrechen, indem sie sich zukünftig mehr in Erfahrungsräume und Prozesse begeben, indem Freiheit in Verbundenheit geübt wird. Ich wünsche mir, dass wir uns alle auf den Weg begeben, mehr Demokrat:innen zu sein. Nicht nur im Inneren, sondern auch dafür einstehen, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Demokratie stetig zu üben und sich in den Prozess zu begeben. Denn ohne dem Einen wird uns das Andere schwer fallen.
Wird uns das gelingen?
Andreas: Das ist eine der zentralen Fragen für die Zukunft aller Menschen. Ich kann nur hoffen, dass uns das gelingen wird. Melissa, vielen Dank für diesen für mich anregenden Dialog.
Herzliche Grüße
Andreas
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Andreas Zeuch
- Melissa Pirouzkar-Moser: privat, mit freundlicher Genehmigung
- Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: privat, mit freundlicher Genehmigung