Governance – Schuld und Sühne im Lichte von New Work

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Governance: Vor einigen Tagen befand ich mich in der Diskussion mit Andreas Zeuch zum Thema Demokratie und Führung im Unternehmen. Das Ergebnis dieser Diskussion ist der vorliegende Artikel zum Thema „Governance – Schuld und Sühne im Lichte neuer Arbeitsformen”. Andreas regt an, dass ich zu diesem Thema meine Gedanken niederschreiben sollte und ich will diesem Impuls gerne nachkommen.

Bevor ich in den Artikel einsteige, möchte ich mit einigen, wenigen Sätzen den Begriff der „Straftat“ im Unternehmen aus meiner Sicht definieren. Es lassen sich nach meinem Dafürhalten Im Unternehmen „Straftaten“ beobachten, die über den Gesetzesrahmen des BGBs, des STGBs und des HGBs hinausgehen. Diese stellen Straftaten im erweiterten Sinne dar. Sie mögen nicht justiziabel sein, haben aber dennoch hohe Relevanz für das Sozialgefüge namens Unternehmen. Es handelt sich dabei um Vergehen oder Unterlassungen, die das Unternehmen als soziale Organisation beschädigen und insbesondere die Zukunft des Unternehmens gefährden.

Als Beispiele, die mir in der Praxis begegnet sind, mag die kleine „Alltagskorruption“ – auch wenn sie nicht justiziabel ist – benannt werden, so wie auch die völlig über das Ziel hinausschießende Bevorzugung einer Einzelperson nicht nur in Frage zu stellen, sondern auch zu ahnden ist. Es ist schlichtweg nicht hinnehmbar. Wenn zum Beispiel einzelne Personen eine bevorzugte Berücksichtigung bei der Karriere- und Lohnentwicklung erfahren, da sie zum Beispiel dem Vorgesetzten um den Bart oder gar andere Körperteile gehen. Ebenso wenig ist es hinnehmbar, wenn ein solches Verhalten zu beobachten ist, darüber aber hinweggesehen und so das Fehlverhalten nicht geahndet wird. Die deutliche Benennung der Straftat der kleinen Korruption „Honig ums Maul schmieren“ oder der großen Korruption – hier exemplarisch sexuelle Dienstleistungen – mag erstaunen und Sie, den Leser, vielleicht sogar verstören. Nichtsdestotrotz sind sie im Alltag zu beobachten und gehören daher, da sie das Sozialgefüge des Unternehmens und die Zukunft desselbigen gefährden, angesprochen, so man über das Thema Straftat, Schuld und Sühne sprechen will.

Sie sehen mich hier Wörter verwenden, die eigentümlich und veraltet wirken mögen. Es riecht nach Dostojewski, Pathos und 19. Jahrhundert. Noch mehr verwundern mögen diese Begriffe, da sie sich so gar nicht in die Wertewelt der Neuen Arbeit einzufügen scheinen. Wir sind doch modern, nicht wahr? Und jetzt kommt ein Herr Antonic mit Begriffen daher, die nach Neandertalern und Mittelhirn riechen und schmecken? Passt das wirklich zusammen? Clean und chic ist das sicherlich nicht.

Der Mensch – ein Mischartefakt der Evolution

Wir wollen Gerechtigkeit, auch bei der Arbeit

Ich behaupte ja und tue dies aus voller Überzeugung. Schuld und Sühne klingt zwar nach hominiden Ursprungsformen und eben nicht nach den ätherisierten Geistwesen, wie sie bisweilen von den Vertretern der Neuen Arbeit herbeigebetet werden. Menschen sind nun mal auch und bisweilen vielleicht mehr Neandertaler, als dies uns lieb ist. Der Hintergrund ist banal: Die Evolution vergisst nicht. Sie wirft kein Genom weg, sondern speichert dies in unserem Körper. Nicht umsonst können sich viele von uns dabei „erwischen“, daß es ihnen eine Riesenfreude bereitet, Fleischberge auf den Grill zu werfen oder stundenlang ins Feuer zu schauen. Wir dürfen und müssen akzeptieren, was wir sind. Und dies bedeutet, daß wir eben auch eine tierische Anima in uns tragen, eine Seele, die nach Blut, Schuld und Sühne ruft.

Nun bin ich kein Freund von dergleichen Atavismen, komme aber nicht daran vorbei, den Menschen aus den vorbenannten Gründen als Melange unterschiedlicher Elemente anzusehen und zu akzeptieren. Daraus ergibt sich dann auch die Akzeptanz der Notwendigkeit von Schuld, Strafe und Sühne für das Sozialgefüge des Unternehmens. Bisweilen braucht es eine Verurteilung und die Strafe, ganz selten vielleicht auch das Richtschwert, welches das Management dann auch zu führen hat, um seiner Funktion als „Wahrer der Moral“ gerecht zu werden.

Governance: Ein deutliches Beispiel

Nach all diesen sperrigen Worten ein konkretes Praxisbeispiel, um zu verdeutlichen, worauf ich abhebe. Fakten: Dienstleistungsunternehmen, 150 Millionen Euro Umsatz, ca. 50 Niederlassungen. Einige, wenige Niederlassungen stachen durch die Höhe des Umsatzes heraus. Eine dieser Niederlassungen fiel dabei leider auch durch extrem niedrige EBIT-Margen auf. Ich war als zuständige Führungskraft für die Vertriebsentwicklung bei der Analyse auf diese Niederlassung aufmerksam geworden. Obgleich Umsatz und Kosten nicht im Geringsten zusammenpassten, war die Niederlassung, genauer gesagt ihre Niederlassungsleiterin, irgendwie unberührbar. Und bekam jedes Jahr irgendein Incentive (2 Wochen Urlaub inkl. Reisekosten und Sonderurlaub). Kritik war seitens meiner Führungskräfte nicht erwünscht. „Was wollen Sie, Herr Antonic, die Dame macht doch einen tollen Umsatz?“, so lautete der als Frage daherkommende Imperativ. Ich wies auf den katastrophalen EBIT hin, das Argument wurde jedoch hinweggewischt. Irritiert wandte ich mich ab, nicht ohne mit komischen Bauchgefühl den Fall aus den Augenwinkeln zu beobachten.

Eines Tag kam ein Mitarbeiter zum Gespräch. Wir sprachen über dies und jenes und das Gespräch kam auf diese Niederlassung. Seine Reaktion auf meine Frage, wieso denn diese Niederlassung als sakrosankt eingestuft wurde, reagierte er zuerst erstaunt, dann lachte er. Seine Aussage war eindeutig. Die Dame hatte ein außereheliches Verhältnis besonderer Art mit einem der Vorstandsherren und dieser war damit erpressbar. Noch Fragen, Herr Hauser? Nein, Herr Kienzle.

Nach vielen, delikaten Gesprächen mit dem betreffenden Vorstand durfte ich die Dame „anpacken“, ihr beruflich (!) zu Leibe rücken. Sie sah sich in der vermeintlich stärkeren Position, meinte sie ja „ihren“ Vorstand im Rücken zu haben. Ihre Performanz war weiterhin liederlich und ihr Verhalten der fleischgewordene digitus medius. Dann begab es sich, daß es mal wieder zum Jahres-Kick off kam. Auch dieses Jahr bekam die Mitarbeiterin vor allen anderen Führungskraft ihr nahezu schon obligatorisches Urlaubsgeschenk. Jedoch – diesmal bekam sie einen Nachschlag.

Ich hatte mir die Mühe gemacht und ihre Zahlen ein wenig tiefer analysiert. Dabei stieß ich auf justiziable Unregelmäßigkeiten. Diese führten dazu, daß der Dame die Ehre zuteil wurde, von der Bühne herunter, auf der sie eben noch gelobt wurde, coram publico fristlos gekündigt (public decapitation) zu werden. Das Publikum der ca. 300 Führungskräfte raunte merklich auf. Es war ein tiefes Raunen… der Befreiung. 300 Steine fielen von der Brust.

Im Nachgang kamen sehr viele Führungskräfte auf mich zu – und bedankten sich. Endlich hatte jemand dieses Verhalten geahndet. Sie wollten und konnten es nicht einsehen, daß jemand, nur weil er dem Vorstand besonders nahe stand, sich an der Kasse vergriff und dafür auch noch Sonderrechte erfuhr. Das war gegen das „gesunde Volksempfinden“. Die aus der Sicht notwendige Bestrafung (fristlose Kündigung, strafrechtliche Verfolgung), war das Blut, welches fließen musste, um den moralischen Kompass des Neandertaler in uns wieder ins Lot zu bringen und die Mitarbeiter daran glauben zu lassen, daß die Führung nicht bestechlich, sondern leistungsfähig und gerecht war. Jetzt wusste man wieder, wieso man „für die da oben“ schuftete. Eine nicht ganz unwichtige Randbemerkung: Die Umsätze und Deckungsbeiträge stiegen kurz danach im gesamten Unternehmen und die zuvor trübe Stimmung hellte sich signifikant auf.

Quintessenz

Ich schicke einen Satz voraus, auf daß Sie meine Worte richtig einordnen können. Auch wenn ich mit der Schilderung einer solchen, drastischen Maßnahme Unwillen und Abstoßung bei Ihnen erzeugt haben sollte, so bin ich sicher eins nicht: Ein Freund der Todesstrafe oder vergleichbarer, drakonischer Maßnahmen. Ich bitte darauf hinweisen zu dürfen, daß ich nicht im Geringsten der Todesstrafe die Stange rede, nichts läge mir ferner. Des Weiteren bitte ich jedoch das Bild der Enthauptung als Metapher bewusst benutzen zu dürfen, auch wenn uns dies noch so schmerzt.

Das Ziel der Verwendung dieses heftigen Gleichnis ist, Ihnen, mir und uns zu verdeutlichen, worum es unter Anderem auch im Unternehmen geht. Um die Anwendung von Instrumenten und Vorgehensweisen, die den Neandertaler in uns befriedigen. Dieser ist in uns und wird auch immer wirkmächtig in uns bleiben, solange die Evolution nicht anfangen sollte, äffisches Genom zu verwerfen. Wenn wir also notgedrungen akzeptieren, daß wir zum Teil so sind, wie wir zum Teil halt so sind, können wir auch mit den Vorgehensweisen Frieden schließen, die nicht so sind, wie wir es gerne für unser Gemüt hätten. Jedoch müssen wir sehr vorsichtig in der Anwendung solcher Maßnahmen, einer solchen ultima ratio, sein. Es muss sich um eine Straftat enormen moralischen Ausmaßes handeln, es muss sich am Unternehmen, den Menschen im Unternehmen und der Zukunft des Sozialraums Unternehmen versündigt worden sein. Für alles andere gibt es weitaus dezentere und passendere Möglichkeiten.

 

Herzliche Grüße
Bodo Antonic

 

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