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Purpose: Am 02. März starteten wir gemeinsam mit Ralf Janssen von der Kompano Entwicklungsberatung unser neues Gemscheinschaftsformat Tacheles reden! Die Idee: Ein oder mehrere Gäste mit konträrer Meinung zu einem aktuellen Thema der neuen Arbeits- und Organisationswelt setzen sich konstruktiv konträr auf dem virtuellen Podium auseinander – unter Einbezug der Teilnehmer*innen. Nach einer eher bescheidenen Bewerbung waren wir am Ende ziemlich überrascht. Wir hatten über 100 Anmeldungen.

Dabei war der Ausfall durch Absagen und bloßes nicht Erscheinen recht geringfügig. An dem Abend waren 77 Teilnehmer*innen dabei, quer durch den Garten, angefangen bei Solo-Berater*innen über Angestellte bis hin zu Geschäftsführer*innen und Gesellschafter*innen aus allen möglichen Branchen. Alle waren offensichtlich daran interessiert, der leitenden Frage dieser ersten Folge nachzugehen: Ist Purpose eine Mode mit schädlichen Nebenwirkungen? Unsere Gäste auf dem Podium waren Olga Gerashchenko, Koordinatorin Kompetenzzentrum für BNE, Stadt Schwäbisch Gmünd und Weleda AG sowie selbstständiger Coach und Prof. Dr. Stefan Kühl, Organisationssoziologe an der Universität Bielefeld und Senior Berater bei Metaplan. Unsere Aussagen zum Start der Diskussion hatten wir folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

  • Olga: “Wenn der Purpose in Unternehmen ernst genommen und authentisch gelebt wird und dieser mit den eigenen Werten im Einklang steht, verleiht er den Menschen besondere Motivation und Schaffenskraft.”
  • Stefan: „Wenn Organisationen Ihren „Purpose“ ernst nehmen, schränken Sie ihre Wandlungsfähigkeit massiv ein.“
  • Ralf: “Ohne Purpose gelingt keine Selbstorganisation. Woran sonst sollte sich eine Organisation orientieren, wenn keiner mehr Ziele vorgibt und Arbeit verteilt.”
  • Andreas: “Keine Organisation kann ihren Mitgliedern Sinn stiften. Aber ein ehrlicher Purpose jenseits von Hochglanzbroschüren kann äußerst hilfreich sein.”

Der Einstieg: Begriffsklärung

Nach der Begrüßung und Anmoderation ging der Ball erst mal an die Teilnehmer*innen, die wir mit zwei Fragen in Paaren in Breakout-Sessions schickten:

  1. Was verstehst Du unter Purpose?
  2. Welche Bedeutung hat Purpose für Organisationen?

Aus den Antworten zur Begriffsklärung wurde schnell klar, was auch im weiteren Verlauf immer wieder thematisiert wurde: Die begriffliche Unschärfe, das Unfassbare von Purpose. Einer der Teilnehmer, Jonas Gebauer, pointierte es trefflich: “Purpose ist super, weil [der Begriff] weder Kernprägnant noch Randscharf (M.Minor) [ist] und weil sich damit alle Konsumentengruppen (jepp, nicht Bürger) angesprochen fühlen, also sowohl der kapitalismuskritische Prenzlauer Berg Hipster als auch der Alt 68er.” Unser Gast Stefan Kühl führte das noch weiter aus: „Purpose leidet darunter, dass jeder beliebig assoziieren kann, was Purpose sein soll. Das macht es als Management Buzz Word so attraktiv aber gleichzeitig so undankbar.“ 

Tacheles reden #01 Begriffssammlung zu Purpose

Die Diskussion

Purpose: Varietät und Begriffsschärfe

Tacheles reden Purpose Stefan Kühl als Gast
Prof. Dr. Stefan Kühl, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld & Berater bei Metaplan

Gleich zu Beginn haben wir uns mit dem kritischen Statement von Stefan Kühl auseinandergesetzt: Wenn Organisationen Ihren „Purpose“ ernst nehmen, schränken Sie ihre Wandlungsfähigkeit massiv ein. Wenn Purpose also mehr ist als bloßes Marketinggeschwurbel, oder wie Stefan es gerne formuliert: Wenn es um mehr geht als die Schauseite des Unternehmens, dann hat Purpose den besagten negativen Effekt. Er bezog sich dabei auf Niklas Luhmann, der das bereits vor rund 50 Jahren herausarbeitete: “Systeme mit motivierenden Zwecken überleben es zumeist nicht, wenn ihr Zweck erfüllt wird, obsolet wird oder in Mißkredit gerät. Organisationen, deren ‘Zweck den Mitgliedern nichts bedeutet, können ihn anpassen, …” (Luhmann 1972: 102f) Ich selbst merkte dazu wie in meinen schriftlichen Beiträgen zuvor (s. Literaturverzeichnis) an, dass dieses Argument nur verfängt, wenn wir Purpose mit dem je aktuellen Organisationszweck gleichsetzen, der wiederum entsprechend eng formuliert sein muss.

Wenn wir indes den Purpose, ähnlich wie einen Visionsbegriff, ausreichend groß und weit definieren, haben Organisationen keineswegs dieses Problem, was ich während der Diskussion selber einbrachte. Wenn der Purpose so groß ist, dass die Organisation in weder aus eigener Kraft erreichen kann, noch dass dieser Purpose messbar ist, wie zum Beispiel die Landung auf dem Mond, die auch als Beispiel diskutiert wurde, dann gibt es sehr wohl eine ausreichende Varietät, sprich Wandlungsfähigkeit. Dies lässt sich an einem der Beispiele Luhmanns selbst erläutern: Wenn denn der Zweck den Mitgliedern nichts bedeute, so Luhmann, dann könne zB “… in der Gefängnisverwaltung die bloße Aufbewahrung der Verbrecher durch therapeutische Bemühungen [ergänzt] … ” werden. Nun, das wäre sogar von Anfang an das sinnvollere Vorgehen als die bloße Inhaftierung, wenn der Zweck nicht darauf reduziert wäre, Straftäter einzusperren, sondern nachhaltig die Sicherheit der Gesellschaft zu ermöglichen. Denn durch das Wegsperren alleine werden die Straftäter nicht automatisch einsichtig und zu besseren Menschen, dass ist längst bekannt.

Ralf Janssen war indes auch damit nicht einverstanden, denn Purpose sei mehr als ein Zweck und etwas anderes als eine Vision. Für ihn ist Purpose eine “Herzensangelegenheit, es ist ein Anliegen. Etwas, für das es sich stets lohnt, sich zu bemühen, aber man kann es nicht wirklich erreichen.” Er illustrierte dies mit einem Kunden, der Traktoren herstellt. Würden wir den Purpose auf das Produkt der Traktoren reduzieren, sieht Ralf dieselbe Problematik, wie auch Stefan und Andreas. Wenn aber der Purpose das größere, weitere, dahinterliegende Motiv ist, einen Beitrag zur Sicherung der Ernährung zu leisten, tritt diese Verengung nicht ein, denn dann gibt es auch über die Traktoren hinaus eine große Vielfalt, um diesem Purpose nachzugehen. Aus Gesprächen mit Amerikanern wäre klar geworden, dass Purpose mit Sinn, Zweck und Absicht zu übersetzen sei.

Olga Gerashchenko verweist in ihrem ersten Beitrag erst einmal auf eine Studie, in der vier verschiedene Formen von Purpose herausgearbeitet wurden: Shareholder-, Customer-, Social und Higher Purpose. Für Olga selbst macht es nur Sinn, wenn wir über Social oder Higher Purpose sprechen. Denn für sie geht es darum, Verantwortung zu übernehmen für die Umwelt und die Menschheit. Es geht darum, dass das Unternehmen einen Beitrag für die Welt leistet. Bei Weleda selbst ist es aus Ihrer Sicht etwas anderes, da von Anfang an eine in der Anthroposophie wurzelnde starke Philosophie vorhanden war. 2017 hat sich das Unternehmen dann zusätzlich auf die Suche nach ihrem Purpose begeben, weil sie eine kollegiale Führung aufstellen wollen. Für sie ist es kein Zweck, keine Mission, sondern die Frage, wozu sie das machen, was sie machen. Der Purpose ist für sie ein innerer Antreiber und eine Orientierung wie der Nordstern, der kein Ziel aber hilfreich bei der Orientierung ist. Im Gegenteil führt für Olga ein Purpose sogar dazu, mutiger und innovativer zu werden, weil er eben über die Reduktion auf einen reinen Zweck hinausgeht und damit den Blick weitet.

Stefan Kühl machte danach klar, dass der Begriff so unscharf ist, das jeder etwas hineinassoziieren kann. “Das macht den Begriff so dankbar für Managementberater, dass man dazu sehr unterschiedliche Sachen verkaufen kann und gleichzeitig extrem undankbar für uns Organisationswissenschaftler.” Aus einer distanzierten Position betrachtet “… changiert das zwischen Werten und Zwecken.” Wenn der werteorientierte Charakter des Begriffs dazu führt, dass der Purpose zu unscharf sei, dann geht man wieder in Richtung der Zweckidentifikation. Deshalb ist der Begriff für die organisationssoziologische Arbeit nicht wirklich brauchbar. Hinzu kommt noch das Problem, dass ein weiter gefasster Purposebegriff immer abhängig ist von den je aktuellen Werten in einer Gesellschaft. So wie heute Selbstverwirklichung oder Nachhaltigkeit. Purpose orientierte Texte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fokussierten indes auf andere Werte wie Vaterlandsliebe oder gar Purpose-Driven-Organizations der nationalsozialistischen Zeit, die starke Wertvorstellungen, die in dem Bereich der Rassenpolitik lagen.

Im nächsten Schritt stellte Ralf die Frage, wozu denn früher überhaupt Organisationen gegründet wurden und kommt zu dem Ergebnis, dass irgendwann im Laufe der Zeit eine zunehmende Entkopplung stattfand, von diesem Ursprünglichen Motiv bis hin zur Trennung von Real- und Finanzwirtschaft. Daraus leitet er die These ab, dass wir Purpose gar nicht mit der Logik des alten Wirtschaftens sinnvoll fassen können. Purpose findet für ihn ein einem neuen Wirtschaftsparadigma statt, in dem wir noch gar keine Erfahrungen haben. In seinen eigenen Purposeprozessen, die er begleitet fragt er deshalb zukunftsorientiert nach dem Wozu und nicht nach dem Warum, das schnell zu austauschbaren Werte führt. Purpose bietet für ihn die Chance, letztlich wieder in die ursprüngliche Gemeinwohlorientierung zu kommen, um einen Nutzen für andere zu stiften. Paul fasste es in seiner Moderatorenrolle zusammen: Purpose ermöglicht es, wieder dorthin zu kommen, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Exkurs: Purpose und Gesundheit

Paul Carduck, Moderation der ersten Folge zum Thema Purpose
Paul Carduck moderierte diese erste Folge

Paul führte das Gespräch dann zum Zusammenhang von Purpose und Gesundheit und sprach mich direkt darauf an. Aus salutogenetischer Sicht wissen wir, dass Sinnerleben und das Kohärenzgefühl ein wichtiger Parameter für das Aufrechterhalten von Gesundheit ist. Mit anderen Worten: Wer seine Arbeit als sinnlos erlebt, hat gesundheitlich schlechtere Karten, als jemand, für die ihre Arbeit hochgradig sinnvoll ist. Gleichzeitig kann gerade aus einem solchen großen Sinnerleben auch wieder eine Selbstausbeutung resultieren, schließlich geht es ja um mehr als das eigene Wohlbefinden. Deshalb ist es für mich wichtig, zum Beispiel ein Frühwarnsystem in Organisationen zu entwickeln, um nicht in eine Purpose motivierte Selbstausbeutung zu entgleiten.

An der Stelle machte einer der Teilnehmenden, Jonas Gebauer, darauf aufmerksam, dass ein Begriff in der Welt desto weniger existiert, je mehr darüber gesprochen werden muss. Seine Großmutter hätte ein sehr sinnerfülltes Leben gehabt, hätte aber nie über Purpose gesprochen. Das fand er auch bei der Analyse von Geschäftsberichten heraus: Je öfter dort etwas benannt wurde, desto weniger wurde es gelebt. Jonas interessiert sich sehr für den jeweiligen Purpose auf der Eben einzelner Personen und Teams, aber nicht auf der Ebene der Organisation. Der Organisation hingegen ist es egal, welche innere Antriebe die Mitarbeitenden haben, sie ist in viele Richtungen anschlussfähig. Und das ist für ihn auch gut so.

Purpose: Systemwandel oder Systemstabilisierung?

Für mich persönlich war der interessanteste Aspekt die Frage, ob und inwiefern Purpose eher zu einem Wandel unseres kapitalistischen Systems beiträgt oder es am Ende doch nur wieder stabilisiert oder gar verstärkt. Denn eines sollte sehr klar sein: Der Kapitalismus verfügt über enormes Geschick, so ziemlich alles zu assimilieren und einer kapitalistischen Verwertung zuzuführen. Wieso sollte es mit dem Begriff Purpose anders sein?

Tacheles reden Purpose - eher Marx lesen als Laloux
Karl Marx (1818-1883)

In diesem Zusammenhang verwies Stefan Kühl auf die Herkunft und Historizität des Purpose Begriffs. Purpose Quest kommt aus der evangelikalen Bewegung der USA und der Gebrauch von Purpose wird aus seiner Sicht vor allem von Menschen vorangetrieben, die aus einem Kapitalismus kritischen Umfeld kommen. Viele trauen sich allerdings nicht mehr, eine stringente Kapitalismuskritik zu formulieren, die marxistisch gut begründet ist. Stattdessen werde versucht, den Kapitalismus humaner darzustellen. Ihn stört dabei vor allem der Gebrauch des Purpose Begriffs, ohne damit eine starke Kapitalismuskritik zu entwerfen und zu formulieren. Deshalb kommt er zu der Hypothese, dass Purpose eigentlich ein neoliberales Projekt ist, wenn es so sehr um Selbstverwirklichung geht, mit der letztlich das bestehende System weiter stabilisiert wird. Gewissermaßen wird uns mit dem Purposebegriff Sand in die Augen gestreut und eine wirklich begrifflich und methodisch scharfe Kapitalismuskritik abgewendet. Die wirklich relevanten Fragen werden verschleiert und nicht mehr gestellt.

Purpose ist eigentlich ein neoliberales Projekt. Stefan Kühl

Olga ergänzt, dass Larry Fink, CEO von Blackrock, die Debatte angestoßen hätte, als er an viele CEOs geschrieben hat, dass es zukünftig mehr brauche, als eine reine Gewinnorientierung. Bei den Mitarbeiter*innen von Weleda  beobachtet sie jedenfalls, dass es nicht mehr reicht, mit der Arbeit einfach nur das Geld zu verdienen. Auch gerade jetzt in der Coronazeit mit viel Homeoffice stellt sich immer öfter die Frage nach dem Warum über die finanzielle Entlohnung hinaus. Wobei sich für mich damals, als dieser Brief von Fink durch die Presse ging, die Frage stellte, inwiefern ausgerechnet Blackrock, die weltgrößte Investmentgesellschaft, ernsthaft einem echten Wandel interessiert ist. Oder ob sich hier nicht gerade schon die Hypothese von Stefan bestätigt.

Kim Schuh stellte dagegen die Frage, was denn mit den Werten und dem Sinn ist, denn die Mitarbeitenden in eine Organisation einbringen und sie auch fordern? Schließlich würden diese Menschen auch den Zweck oder Purpose einer Organisation mit beeinflussen. Es geht dabei zentral immer wieder um uns Menschen, und keineswegs nur um eine abstrakte Vermeidung oder Reduktion von Emissionen wie CO2. Sie stellt fest, dass es eine auch gesellschaftlich immer größere Sehnsucht gibt, anders leben zu wollen. Und das ist für sie eine Chance, Wirtschaft anders zu denken. Und auch für Ralf ist es vielmehr so, dass durch die Purpose Debatte dieser Wandel ja gerade angestoßen wird.

Stefan versucht seine Sicht anhand des Vergleichs von Frederique Lalouxs Buch Reinventing Organizations mit Marx zu verdeutlichen. Und da kommt dann auch Tacheles reden auf, denn für ihn ist Laloux unpräzises Geschwätz, gerade auch, wie er Organisationen analysiert, weit weg vom Stand der organisationssoziologischen Forschung. Statt sich des präzisen begrifflichen und analytischen Instrumentariums von Karl Marx zu bedienen, um das aktuelle kapitalistische System zu hinterfragen, verlieren sich die meisten Berater*innen in der Oberflächlichkeit von Laloux und Co.

Christoph Frey stellt in dem Zusammenhang auch noch mal klar, dass ein Purpose alleine noch lange nichts mit einer Entwicklung in Richtung von mehr Gemeinwohl für alle zu tun haben muss. Wir verwenden den Begriff so, als ginge es um etwas Gutes, etwas ethisch Integres. Aber als die Frage nach Beispielen für Purpose-Driven-Organizations gestellt wurde, kamen ihm Organisationen ein wie der Lebensborn oder das Rasse- und Siedlungshauptamt. Und “das sind [offensichtlich] alles keine guten Organisationen” in dem Sinne, wie wir heute den Begriff immer wieder kolportieren. Seinem Verständnis nach ist der Purpose Begriff komplett wertfrei. Und wird dann, wie ich anmerken würde, in jedem einzelnen Fall erst einmal mit entsprechenden Werten gefüllt.

Die Abschlussrunde

Den letzten Teil dieser Ausgabe von Tacheles reden! leuteten wir mit einer zweiten Runde von Statements aus dem Podium ein. Für mich selbst hatte sich nichts an der Binsenweisheit geändert, dass der Begriff Purpose nunmal Vor- und Nachteile hat. Der Begriff kann einerseits  hilfreich sein im Sinne einer systemkritischen Weiterentwicklung unserer Wirtschaft aber auch  andererseits systemstabilisierend oder gar -verstärkend genutzt werden. Darüber hinaus kann Purpose noch andere negative Effekte wie Selbstausbeutung hervorrufen. Auffällig schien mir nur zu sein, dass es ein reziprokes Verhältnis gibt von unmittelbar existentiell sinnvollen Berufe wie Landwirt, Arzt oder Müllwerker und der Beschäftigung mit einem Purpose. Sprich: Je weniger offensichtlich der Sinn einer Arbeit, desto eher wird ein Purpose thematisiert.

Ralf schloss daraus, dass wir uns also zunehmend mit Purpose befassen müssen da unsere Berufe ja zunehmend von dieser unmittelbaren Sinnhaftigkeit entfernen (eine gewisse Nähe zum Marx’schen Begriff der Entfremdung ist an dieser Stelle der Diskussion kaum zu übersehen). Ja, der Purposebegriff wirkt austauschbar und beliebig, aber für ihn ist die Auseinandersetzung mit Purpose weiterhin eine gute Möglichkeit, wie Zukunft gestaltet werden kann, “ohne sich an Vergangenheit orientieren zu müssen.” Denn da sind ja die Muster produziert worden, die wir heute schwierig finden.

Olga meint, dass wir nicht davon ausgehen können, dass sich (unsere) Mitarbeiter*innen die Frage nach dem Sinn stellen. Deshalb ist es wichtig, die Kommunikation darüber anzustoßen, so wie für sie diese Veranstaltung sinnvoll ist, weil es uns zum Nachdenken bringt. Purpose bedeutet für Olga vor allem Verantwortung, eben weil der Begriff ebenso negative wie positive Ergebnisse hervorrufen kann. Konkret schlägt sie vor, dass sich Unternehmen fragen: “Was würde der Welt fehlen, wenn wir nicht auf dem Markt wären?” – um daraus den eigenen Purpose zu entwickeln.

Stefan stellt eine weitere interessant These auf: “Diejenigen Unternehmen, die keinen Purpose suchen oder formulieren, sind diejenigen, die den stärksten Purpose haben.” Umgekehrt sind diejenigen, die ihren Purpose suchen, diejenigen, die ein Problem mit ihrem Purpose haben. Damit bezieht er sich auf den Begriff der “umgekehrten Heuchelei” des schwedischen Organisationssoziologen Nils Brunsson. Je größer die Umweltverschmutzung durch ein Unternehmen, desto größer der Nachhaltigkeitsbericht – um das damit verbundene Legitimationsproblem zu lösen.

Was hat die Diskussion bewirkt?

Nicht ganz in der chronologischen Reihenfolge schließe ich diesen Veranstaltungsbericht mit unserer letzten Umfrage an die Teilnehmer*innen, die vor den oben erwähnten Abschlussstatements erfolgte. Dafür stellten wir folgende Frage: Angenommen, Du wärst heute nicht dabei gewesen, um welche Erkenntnis wärst Du ärmer, um was wäre es schade? Hier die Antworten (auf Klick werden die Abbildungen vergrößert):

Ergebnisse Tacheles reden #01 - Purpose_01

Ergebnisse Tacheles reden #01 - Purpose_02

Ergebnisse Tacheles reden #01 - Purpose_03

 

Einer der Teilnehmer, Lennart Keil, stellte aus meiner Sicht kurz vor Schluss noch eine wichtige Frage: Wenn der Kapitalismus am Ende doch alles assimiliert und in seinem Sinn verwertet (somit auch den Purposebegriff) – was können dann Menschen machen, die in großen Organisationen arbeiten und etwas bewegen wollen? Diese Frage ist aus unserer Sicht (natürlich) nicht einfach zu beantworten, da es in jedem einzelnen Fall auf verschiedene Faktoren ankommt, die mitunter erheblich abweichen können. Und letztlich geht jegliche Veränderung einer Organisation oder gar Transformation durch das Nadelöhr des Topmanagements. Ohne deren Mitwirkung wird es keine neue Arbeitswelt geben. Ein paar Schritte scheinen uns trotzdem sinnvoll:

  1. Werde Dir klar, was Dir selbst wichtig ist für eine neue (Arbeits)Welt und bringe das sofern möglich in eine Rangfolge.
  2. Gleiche es mit den aktuell gelebten Werten des Arbeitgebers ab. Ist die Passung für Dich aktuell ausreichend groß? Wo kannst und möchtest Du mitwirken?
  3. Schätze die zukünftige Entwicklung Deines Arbeitgebers hinsichtlich einer neuen (Arbeits)Welt ein, gerne auch gemeinsam mit Kolleg*innen.
  4. Wie entwickelt sich damit die Schnittfläche zwischen dem, was Dir am wichtigsten ist und Deinem Arbeitgeber?
  5. Falls Du eine Rolle in einer Schlüsselposition inne hast und/oder einen guten Draht zum Topmanagement pflegst, dann stellt sich die Frage, ob Purpose einen wesentlichen Aspekt Eures Wesens ausmacht und wenn ja, ob sich diesem zukünftig systematisch, ernsthaft und durchdacht genähert werden sollte.
  6. Last but not least: Behalt das Topmanagement im Auge. Taten zählen bekanntlich mehr als Worte…

Diese Schritte wirst Du in einem gewissen Turnus immer wieder durchlaufen müssen, um zu prüfen, ob Du bei Deinem jetzigen Arbeitgeber noch richtig bist. Und natürlich können sich alle, “die etwas bewegen wollen” zusätzlich fragen, wo sie mehr Einfluss haben: In einem kleineren Unternehmen oder einem Konzern mit mehreren Zehn- oder gar Hunderttausend Mitarbeiter*innen, die meist noch global verteilt arbeiten und im Allgemeinen dem Shareholder-Value dienen.

Wir bedanken uns herzlich bei Olga und Stefan für ihre engagierten Gastbeiträge und die unkomplizierte und gute Vorbereitung. Und natürlich gilt unser Dank auch allen Teilnehmer*innen, die bei dieser Premiere dabei waren und die erste Folge aktiv mitgestaltet haben sowie unserem Kollegen Ralf Janssen, mit dem wir dieses Gemeinschaftsformat gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Wir freuen uns auf die nächste Folge Tacheles reden! am 11. Mai, wieder von 17-19 Uhr. Arbeitstitel: Ist Selbstorganisation eine Frage der Reife!

 

Herzliche Grüße

Andreas für das Tacheles reden! Team

 

Weiterführende Literatur und Quellen

Die folgenden Hinweise sind allesamt dem Chat der Veranstaltung übernommen.

Bücher

  • Altvater, E.; Hecker, R. (1999): Kapital.doc. Westfälisches Dampfboot
  • Boltanski, L; Chiapello, E. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. UWK
  • Chapoutut, J. (2021): Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements von Hitler bis heute. Propyläen
  • Fink, F. und Möller, M.: Purpose driven Organizations.
  • Heath, J. (2004): The Rebel Sell: Why the Culture Can’t be Jammed
  • Krell, G. (1994): Vergemeinschaftende Personalpolitik. Werksgemeinschaft, NS-Betriebsgemeinschaft, Betriebliche Partnerschaft, Japan, Unternehmenskultur
  • Luhmann, N. (1972): Funktionen und Folgen formaler Organisationen. Duncker & Humblot
  • Marx, K. (1962): Das Kapital. Erstes Buch in MEW Band 23, 
  • Murray, K. (2017). People with Purpose. KoganPage.

Internet

Von uns noch ergänzend unsere bisherigen Blogbeiträge zum Thema Purpose

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Mashup, ©Andreas Zeuch
  • Stefan Kühl: mit freundlicher Genehmigung
  • Olga Gerashchenko: mit freundlicher Genehmigung
  • Karl Marx: ©John Mayall Junior, gemeinfrei

 

Comments (6)

Wie immer von dir: präzise und perspektivenreich zusammen gefasst. Ich danke dir dafür und für die kooperative Zusammenarbeit.

Lieber Ralf,

Danke Dir für die schöne Rückmeldung – ist mir ehrlich gesagt nicht leicht gefallen… umso schöner, dass der Bericht auch bei Dir gut ankommt. Und wir danken Dir ebenso für die gute Zusammenarbeit – und freuen uns schon auf die 2. Folge!

Danke Dir, Andreas und euch allen, die diesen Austausch und den kritischen Blick auf das Thema Purpose ermöglicht und durchgeführt haben.

Liebe Gudrun,

sehr gern geschehen. Die kritische Auseinandersetzung war uns ein Anliegen – schön, dass gerade das auch bei Dir gut ankam.

Danke für die Zusammenfassung! War eine spannende Diskussion. Seit letzter Woche liegt jetzt ein Post-it mit den Worten “der Purpose als neoliberales Projekt auf der Schauseite” auf meinem Schreibtisch und schaut mir leicht skeptisch beim Arbeiten zu.

Sehr gerne, Lennart. Lustige Idee mit dem Post-it. Allerdings vermute und befürchte ich, dass auch da der übliche Gewöhnungseffekt eintritt. Irgendwann wirst Du die Botschaft vermutlich nicht mehr wirklich wahrnehmen. Wie das halt so ist, bei uns Menschen und mit wiederholten Wahrnehmungen. Sie werden automatisiert und zu impliziten Wahrnehmungen…

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