Demokratische Verantwortung: Wir nennen uns nicht umsonst unternehmensdemokraten. Dabei geht es uns keineswegs nur um die Demokratisierung der Arbeit, darum, dass die Stimmen aller gehört werden und eine Bedeutung haben. Es ist auch nicht damit getan, dass wir den offensichtlichen und eklatanten Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Demokratie und organisationaler Hierarchie für fragwürdig halten. Es geht uns darüber hinaus auch um die demokratische Verantwortung aller Unternehmen.
Demokratische Verantwortung: Nicht nur Eigentum verpflichtet
Am 23. Mai 1949 wurde unser Grundgesetz offiziell verkündet und in Kraft gesetzt. Es war ganz bewusst keine Verfassung, denn sie sollte nicht nur für Westdeutschland gültig sein. Deshalb gab es seinerzeit keine verfassunggebende Versammlung, sondern nur einen parlamentarischen Rat, der eine vorläufige Verfassung erarbeiten sollte – und dieses Provisorium wurde schließlich unser Grundgesetz. Heute können wir sagen: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Im Zusammenhang mit diesem Beitrag wird die eine oder der andere von Euch an den Artikel 14, Absatz 2 denken:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Eine starke Idee, einerseits. Andererseits jedoch recht nebulös und bis heute kaum ernsthaft verwirklicht. Präziser ist da schon die Bayerische Verfassung, Art. 151, Absatz 1: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten“ Absatz 2 führt ergänzend aus: „Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls.“ Allerdings müssen wir uns wohl eingestehen, dass auch hier viele Fragen anschließen:
- Was genau ist das Gemeinwohl?
- Was ist ein menschenwürdiges Dasein[1]?
- Lässt sich das überhaupt allgemeingültig festlegen?
- Welchen Zeitraum bedeutet die “allmähliche” Erhöhung der Lebenshaltung und was genau umfasst Letztere?
Zu diesem letzten Punkt könnten wir vermutlich mit überschaubarem Aufwand feststellen, dass die aktuell beliebten Sub-Sub-Sub-Unternehmenskonstruktionen in der Logistik kaum dazu dienen, die Lebenshaltung der ausgebeuteten Fahrer am Ende der Fresskette allmählich zu erhöhen. Und rückblickend können wir faktisch feststellen, dass es einen relativ großen Unterschied gibt in der Entwicklung der Lebenshaltung zwischen den untersten, mittleren und obersten Vermögens- und Einkommensbereichen in der Gesellschaft, genauer, ein proportionales Verhältnis von Vermögens- und Einkommenshöhe und der “allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung”. Das hat sich jüngst in der Corona Pandemie gezeigt: Je reicher, desto schneller und mehr erhöht sich im Allgemeinen die Lebenshaltung. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Mit diesem Beitrag geht es mir aber keineswegs um diese immer wieder hervorgekramte Verpflichtung, die aus dem Eigentum laut unserer Gründermütter und -väter hervorgeht. Unternehmen haben aus meiner Sicht eine viel stringenter abzuleitende demokratische Verpflichtung. Mein Argumentationslinie ist im Kern simpel:
- Artikel 14 bietet mit dem ersten Absatz die Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht. Alle Bürger:innen dürfen über Eigentum verfügen, es erwerben, verkaufen, vermieten. Jeder darf somit auch ein eigenes Unternehmen aufbauen (Art. 9), um weiteres Eigentum zu erwirtschaften und über die Betriebs- und gegebenenfalls Produktionsmittel verfügen.
- Darüber hinaus besteht entsprechend Artikel 12 “das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.” Dadurch wird den Unternehmen und deren Eigentümer:innen eine weitere fundamentale Grundlage gesichert, durch die sie erst ihre Belegschaft im freien Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt[2] gewinnen können.
- Infolge Artikel 15 können jedoch andererseits “Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel … zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden”, sofern dies zum “Wohle der Allgemeinheit” (Art. 14, Abs. 3) vollzogen wird (was ja seit nicht allzulanger Zeit im Zusammenhang mit der sich weiter anspannenden Wohnsituation diskutiert wird).
- Insofern stehen alle Unternehmen und deren Eigentümer:innen in einer demokratischen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Wenn sie nicht aktiv an deren Erhalt und positiver Entwicklung mitwirken, laufen sie langfristig Gefahr, ihrer eigenen Rechtsgrundlagen verlustig zu gehen.
Sofern es nicht um einen schnellen Exit geht, ist eine gut funktionierende, gesunde und starke Demokratie also für alle langfristig handelnden Unternehmen eine vitale Rechtsgrundlage.
Demokratische Verantwortung: Demokratieresilienz
Somit schließt sich die Frage an, was eine Demokratie braucht, um gut zu funktionieren, gesund und stark zu sein und möglichst vielen Herausforderungen souverän begegnen zu können? Aus meiner Sicht muss diese Frage auf drei Ebenen beantwortet werden: Die der einzelnen Bürger:innen (Mikroebene), aller Organisationen, egal welcher Art (Mesoebene) und letztlich natürlich die Gesellschaft als Ganzes (Makroebene).
Mikroebene
2017 veröffentlichte der US amerikanische Politikwissenschaftler Jason Brennan sein für manche provokantes Buch “Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen.” Dabei ist das Buch kein Pamphlet gegen Demokratie, sondern eine gelungene Analyse ihres aktuellen Stands inklusive einer anregenden Darstellung verschiedener Ansätze der Problemlösung und Weiterentwicklung. Am Anfang steht eine grobe, holzschnittartige Typologisierung der Wähler:innen, gefolgt von einer kritischen Reflexion zentraler demokratischer Mechanismen wie freien und sicheren Wahlen, dem Wahlrecht, Wahlalter etc. Brennan schließt sein Buch mit verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten, die er größtenteils nicht selber entwickelt hat, sondern lediglich aufgreift und diskutiert. Die drei erwähnten Typen, die er herausarbeitet, sind die Hobbits, Hooligans und Vulkanier.
Beginnen wir mit den Hobbits: Sie sind liebenswert und harmlos. Leider interessieren sie sich nicht wirklich für Politik, dafür umso mehr, mit ihren Lieben eine gute Zeit zu verbringen. Sie machen einen großen Teil derjenigen aus, die sich nicht an Wahlen beteiligen. Nicht aus Verdrossenheit, sondern weil sie Anderes im Sinn haben. Ganz anders die Hooligans. Denn sie haben definitiv eine politische Meinung, die sie vertreten, und zwar unüberhörbar. Menschen mit anderen Ansichten dürfen sich sicher sein, mit Ihnen in einen handfesten Konflikt zu kommen, wenn sie nicht klein beigeben (manchmal sogar wortwörtlich). Das Problem mit den Hooligans: Sie sind kaum in der Lage und in den meisten Fällen nicht willens, die eigenen Positionen zu überdenken geschweige denn zu ändern. Drittens und letztens gibt es die Vulkanier. Sie haben im Gegensatz zu den Hooligans die eigenen Emotionen im Griff und wägen ab, gehen in den Dialog und lassen sich vom besseren Argument oder von Fakten (mensch höre und staune!) überzeugen. Und sie prüfen auch immer wieder die Faktenlage und hinterfragen die eigenen Positionen sowie Argumentationslinien, um den uns alle bedrohenden confirmation-bias möglichst weitgehend auszuschließen.
Sofern diese Typologisierung einigermaßen zutrifft – wovon ich ausgehe – stehen wir vor einer großen Herausforderung: Die meisten Wähler:innen gehören wohl zu den ersten beiden Gruppen. So grob sie auch gezeichnet sind, vermutlich kennst auch Du genau solche Menschen: Desinteressiert oder zementiert in der eigenen Meinung. Somit stellen sich auf der Ebene der einzelnen Bürger:innen zwei zentrale Fragen zur Entwicklung einer resilienten Demokratie:
- Wie erzeugen wir demokratisches Interesse?
- Wie schaffen wir einen vernünftigen demokratischen Dialog?
Mesoebene
Die nächste systemische Ebene ist die formaler Organisationen. Darunter verstehe ich sozio-technische Systeme verschiedener Sektoren: Unternehmen, Non-Profit-/Nicht-Regierungs-Organisationen und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes. Alle diese Organisationen sind insofern formal, als dass sie mit einer bestimmten juristischen Kodifizierung verbunden sind. Sie unterliegen einer gesellschaftsrechtlichen Form (Personen- oder Kapitalgesellschaften, Körperschaften öffentlichen Rechts etc.), die bestimmte hierarchische Strukturierungsmerkmale wie eine Geschäftsführung, einen Vorstand, Abteilungsstrukturen oder Dienstgrade vorgeben und teils weitere rechtliche Ausgestaltungen wie Gesellschafter- oder Arbeitsverträge vorschreiben. Desweiteren prägt das Betriebsverfassungsgesetz in Unternehmen und das Personalvertretungsgesetz im öffentlichen Dienst diese Organisationen. Last but not least sind viele bis hin zu den meisten ihrer Prozesse formalisiert, indem sie einer Wenn-Dann-Logik folgen.
Was trägt auf dieser Ebene zur Demokratieresilienz bei? Eines sicherlich kaum: Die fast allgegenwärtige undemokratische Gestaltung und Führung dieser Organisationen. Damit sind wir bei einem der zentralen Probleme unserer Demokratie, das leider unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Demokratieentwicklung kaum diskutiert wird. Wenn unsere formalen Organisationen in allen Sektoren Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat mehr oder minder demokratiereduzierte Zonen sind, wie soll sich dann Demokratieresilienz entwickeln? Wie soll unsere Demokratie einfach nur gepflegt und geschweige denn weiterentwickelt werden, wenn die meisten von uns in der täglichen Arbeit als Verrichtungsgehilfen Anweisungen ausführen, anstatt vielfältige Erfahrungen mit demokratischen Gestaltungsprozessen und demokratisch legitimierter Führung zu machen?
Umgekehrt gibt es aus der empirischen Organisationsforschung starke und überaus plausible Hinweise, dass die Demokratisierung der Arbeit zu einem äußerst nützlichen Spillover Effekt führt (vgl. Pateman 1970, Timming und Summers 2018, Weber 2019, Hövermann et al. 2021 u.a.m.): Die Angestellten lernen und üben im Rahmen ihrer Arbeit demokratische Kompetenzen und nehmen diese Erfahrungen und Lernergebnisse mit ins Privatleben. Dort zeigt sich z.B. eine höhere demokratische Verantwortungsübernahme, höhere demokratische Selbstwirksamkeitserwartung (die Überzeugung auch gegen Widerstände erfolgreich handeln zu können) und höhere Solidarität. All das können wir wiederum zur Entwicklung der Demokratie und ihrer Stärkung nutzen. Daraus leiten sich folgende Fragen ab:
- Brauchen wir über die bestehenden Möglichkeiten hinaus weitere Voraussetzungen zur Demokratisierung der Arbeit?
- Wie gelingt möglichst weitreichende und nachhaltige Organisationsdemokratie?
Makroebene
Was trägt letztlich auf der national gesellschaftlichen Ebene zur Demokratieresilienz bei? Um das zu beantworten, hilft ein Blick auf eine der Ursachen, die maßgeblich zur aktuellen Problematik des international immer weiter fortschreitenden Rechtspopulismus beiträgt: Die Meritokratie, unsere Leistungsgesellschaft mit ihrem illusionären Versprechen, dessen prototypische Reinform der amerikanische Traum ist: Jeder kann seine Träume verwirklichen, wenn er oder sie nur hart genug arbeitet. Michael Sandel, Professor für politische Philosophie in Harvard, hat dies in seinem letzten Buch “Vom Ende des Gemeinwohls” gründlich erläutert und belegt (Sandel 2020). Im Kern entsteht das Problem der gesellschaftlichen Spaltung und damit die Gefährdung des sozialen Friedens durch die Leugnung der Lotterie des Lebens.
(Berufliche) Erfolge können niemals ein ausschließliches Produkt der eigenen Leistung sein. Sie sind immer auch von Glück und Zufällen abhängig.
Das beginnt schon damit, wann wir in welcher Gesellschaftsschicht mit welchen Eltern aufwachsen und welche genetische Ausstattung wir mit auf den Weg bekommen haben. Die Mechanismen, die wir gesellschaftlich aufgebaut haben, um zumindest so zu tun, als wollten wir zum Ausgleich ernsthafte Chancengleichheit, versagen grundlegend. Sandel illustriert dies anhand des Auswahlsystems der amerikanischen Elite Universitäten. Und das als Professor mit Starcharakter in einer der renommiertesten Unis der Ivy League und sogar weltweit.
Letztendlich führt dieses meritokratische Narrativ dazu, dass diejenigen, die es auch durch viele glückliche Umstände und Hilfe Dritter an die Spitze geschafft haben, ihre soziale Stellung, finanzielle Situation, politische Macht etc. als verdiente Leistung verstehen. Im Umkehrschluss haben sich all diejenigen, die davon weit entfernt sind, nicht genug angestrengt und damit ihre Situation selbst zu verantworten. Besonders perfide ist dabei, dass das niemals erfüllte Versprechen des amerikanischen Traums und seines europäischen Ursprungs – jeder ist seines Glückes Schmied – über die Jahre auch von denjenigen internalisiert wurden, die heute und in Zukunft nicht zur Elite gehören und sich somit (un)bewusst als Versager:innen fühlen. Es sind diejenigen, die in den USA von Hillary Clinton als deplorables gebranntmarkt in den Fly-Over-States leben und immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, obwohl sie über Jahrzehnte in der Stahl- und Kohleindustrie zum Aufbau Ihres Landes maßgeblich beigetragen hatten. Selbstredend ist dies kein ausschließlich amerikanisches Problem, sondern in allen Gesellschaften zu finden, die sich dieses Narrativ auf die Fahnen geschrieben haben.
Somit muss es im Sinne der Unternehmen sein, den sozialen Frieden zu sichern, denn die immer wieder aufkeimenden Proteste von Occupy-Wall-Street über die Gelbwesten bis hin zu den Querdenkern, die ja nicht nur gegen die Corona-Politik auf die Straße gehen, sind alles andere als förderlich für sichere Produktionsbedingungen. Das geht also auf Dauer nicht mit einer (zunehmend) global zerrissenen Gesellschaft. Einerseits innerhalb einer Nation und eines Wirtschafts- / Kulturraums (EU) ebenso wie global im Nord-Süd Konflikt. Daraus folgen wichtige Fragen auf der Makroebene:
- Was können Unternehmen beitragen, um die Leistungsgesellschaft nachhaltig zu ändern und für mehr echte Chancengleichheit zu sorgen?
- Wie können sie dies zum eigenen wirtschaftlichen und gemeinschaftlichen Vorteil verwirklichen?
Der Dreh
Um diese Herausforderungen auf den drei Ebenen Mikro, Meso und Makro gemeinsam zu meistern, bedarf es im Kern nur eines einfachen konzeptuellen Drehs: Indem wir alle unsere Organisationen (Unternehmen, NGO und öffentlicher Dienst) als Bindeglied zwischen der Mikro- und Makroebene betrachten und behandeln, können wir Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen finden.
Wenn wir in der täglichen Arbeit erleben, dass wir ernsthaft eingeladen sind, unsere Arbeitsumgebung mitzugestalten und mitzuführen, kann dadurch wieder Interesse an politisch-demokratischer Teilhabe entstehen. Dazu müssen wir einen vernünftigen Diskurs führen, indem das bessere Argument zählt und nicht die Position. Das wiederum setzt bei den einzelnen Akteuren voraus, sich demokratische Kompetenzen anzueignen (s.o., Hooligans vs. Vulkanier).
Durch diesen Prozess werden wir Schritt für Schritt herausfinden, welche weiteren Voraussetzungen nötig sind, um Organisationsdemokratie zu ermöglichen. Was ist jetzt schon möglich, wo brauchen wir Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen? Reichen Reformen des bestehenden Gesellschaftsrechts (GmbH Gesetz, Aktiengesetz, Genossenschaftsrecht…) oder brauchen wir neue Rechtsformen für Kapital- und Personengesellschaften, wie beispielsweise die in Diskussion befindliche VE-GmbH, mit der die Idee des Verantwortungseigentums verwirklicht werden soll (Fleisch 2020, Ilg 2020)? Genauso werden wir durch Learning by doing herausfinden, wie eine nachhaltige Demokratisierung der Arbeit gelingt. Selbstverständlich sollte dies auch wissenschaftlich begleitet erarbeitet werden, um belastungsfähiges Wissen zu erlangen.
Schlussendlich können Organisationen im Zuge ihrer Demokratisierung zwei wichtige Änderungen einführen, testen und weiterentwickeln, die vermutlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Makroebene haben könnten: Erstens Leistung nicht mehr wie bisher individuell zu verorten und zu belohnen (leistungsabhängige Vergütung und Boni), sondern sie gemeinschaftlich zu verstehen. Instrumentell lässt sich dies leicht durch gemeinsame leistungsabhängige Vergütungen umsetzen, so wie ich darüber in meinem letzten Buch berichtet hatte (Zeuch 2015). Zweitens können Organisationen in verschiedenen Zusammenhängen Losverfahren einsetzen, zum Beispiel bei Personalbesetzungen. Dies ist hat auch jüngst der Verhaltensökonom Chengwei Liu vorgeschlagen, zur Zeit außerordentlicher Professor für Strategie- und Verhaltenswissenschaften und Leiter des Global Online MBA-Programms an der ESMT Berlin (Hoffmann 2021) – natürlich nicht aus Jux, sondern auf Basis seiner Forschungsergebnisse. Ebenso kann durch Losverfahren ein erhebliches Problem in selbstorganisierten, demokratischen Organisationen gelöst werden: Häufig melden sich immer wieder dieselbe Personen freiwillig für verschiedene Aufgaben. So konnten wir unternehmensdemokraten bei einem unserer Kunden dazu beitragen, dass deren selbstorganisierte Taskforces mittlerweile durch ein Losverfahren besetzt werden, um so mehr Vielfalt und neue Lösungsansätze zu gewährleisten. Mit diesem Vorgehen würden wir klarstellen, dass Erfolg immer auch eine zufällige Komponente hat und dies für eine erfolgreiche Verwirklichung des jeweiligen Organisationszwecks nutzen. Peu a peu könnten wir so das zuvor geschilderte illusionäre Leistungsnarrativ auflösen. Und durch eines ersetzen, in dessen Zentrum die Demut vor der Lotterie des Lebens steht, unsere Abhängigkeit von anderen und die Dankbarkeit, dabei auch Glück gehabt zu haben: Mit etwas Glück können wir gemeinsam viel mehr erreichen, als wir oftmals glauben.
Diesen Dreh verfolgen wir mit unserem “UD sustainability co:lab” (SCL), indem wir die Organisationen, die das SCL bei sich durchführen, zu dem oben erwähnten Bindeglied zwischen der individuellen Mikroebene und der gesellschaftlichen Makroebene machen. Und zwar als gewünschten Nebeneffekt, gewissermaßen als Kollateralnutzen. Im Zentrum steht der jeweilige Nutzen für die Organisationen, wie beispielsweise die Erzeugung grüner Wettbewerbsvorteile oder die Verbesserung der Mitarbeiterbindung als Motivation, dieses Programm bei sich durchzuführen. Gleichzeitig ermöglichen wir damit den oben erwähnten demokratischen und Nachhaltigkeits-Spillover-Effekt mit seinen positiven Wirkungen auf die gesellschaftliche Demokratie und unsere Umwelt.
Wenn wir die demokratische Verantwortung im beschriebenen Sinn ernst nehmen und angehen, haben wir eine gute Chance, eine Menge unserer aktuellen Probleme auf der Mikro-, Meso- und Makroebene zu lösen.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Eine ziemlich wichtige Frage, will ich meinen. Gehört dazu die immer wieder kolportierte “Freiheit”, sich beispielsweise so viel kaufen zu dürfen wie mensch will? Zum Beispiel 60 Kleidungsstücke jährlich im bundesdeutschen Durchschnitt, nur um diese billigen Fast Fashion Klamotten nur ein oder zweimal anzuziehen (falls überhaupt), um sie dann wieder zu entsorgen? Alleine das zu hinterfragen, treibt schon manchem Liberalen den Blutdruck in die Höhe bei gleichzeitiger Ignoranz, dass die externalisierten Kosten für diese angebliche Freiheit von uns Konsument:innen von allen gezahlt werden. Insbesondere aber von denen, die im Produktionsprozess unsichtbar weit weg von Deutschland nach allen Regeln der Kunst erst ausgebeutet werden und dann noch mehr als wir unter den fortwährenden ökologischen Folgen wie Erderhitzung, Artensterben, Müllflut etc. zu leiden haben.
[2] Eine weitergehende kritische Reflexion des Begriffs und Konstrukts Arbeitsmarkt lasse ich hier bleiben. Dazu reicht der Verweis auf Karl Polanyis bahnbrechende Analyse dieser fragwürdigen Idee in seinem Buch “The Great Transformation” (1944/2015):
“Arbeit, Boden und Geld sind wesentliche Elemente der gewerblichen Wirtschaft, sie müssen ebenfalls in Märkten zusammengefasst sein, und die Märkte bilden einen unerläßlichen Teil des Wirtschaftssystems. Indessen sind Arbeit, Boden und Geld ganz offensichtlich keine Waren. Die Behauptung, daß alles, was gekauft und verkauft wird, zum Zwecke des Verkaufs produziert werden mußte, ist in bezug auf diese Faktoren eindeutig falsch. … nach der empirischen Definition der Ware handelt es sich nicht um Waren. Arbeit ist bloß eine andere Bezeichnung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs, sonden zu gänzlich anderen Zwecken hervorgebracht wird; auch kann diese Tätigkeit nicht vom restlichen Leben abgetrennt werden. … Die angebliche Ware “Arbeitskraft” kann nicht herumgeschoben, unterschiedslos eingesetzt oder auch nur ungenutzt gelassen werden, ohne damit den einzelnen, den Träger dieser Ware, zu beeinträchtigen. Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychologische und moralische Ganzheit “Mensch” verfügen, der mit dem Etikett “Arbeitskraft” versehen ist.” (a.a.O: 107f, kursiv im Original)
Literatur
- Brennan, J. (2017): Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Ullstein.
- Fleisch, H. (2020): Verantwortungseigentum und die Kampagne für eine VE-GmbH – ein Faktencheck. Stiftungsrecht Plus
- Hövermann, A. et al. (2021): Anti-Demokratische Einstellungen. Der Einfluss von Arbeit, Digitalisierung und Klimawandel. Hans-Böckler-Stiftung, Policy-Brief Nr. 007
- Hoffmann, M. (2021): Sie wollen die Beste? Verlosen Sie den Job! Spiegel Online
- Ilg, P. (2020): VE-GmbH: Neue Rechtsform für eine bessere Welt gefordert. Heise Online
- Pateman, C. (1970): Participation and Democratic Theory. Cambridge University Press
- Polanyi, K. (1944/2015): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. suhrkamp taschenbuch wissenschaft
- Sandel, M. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer
- Timming, A.; Summers, J. (2018): Is workplace democracy associated with wider pro-democracy affect? A structural equation model. Economic and Industrial Democracy 41(3): 709–726
- Weber, W.; Unterrainer, C.; Höge, T. (2019): Psychological Research on Organisational Democracy: A Meta-Analysis of Individual, Organisational, and Societal Outcomes. Applied Psychology, 69 (3): 1009-1071
- Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann
- Zeuch, A. (2020): Hobbits, Hooligans & Vulkanier. Was die US Wahl für Unternehmensdemokratie bedeutet. Blog der Unternehmensdemokraten.
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0
- Alle anderen Bilder: Cover der Bücher, gemeinfrei
Hallo Andreas – Danke fürs Anreißen der Thematik. Guter Text, wünschte mir, dass auch Hobbits anfangen sich mit den Voraussetzung für das Anhalten ihres Wohlbehagens auseinanderzusetzen.
Habe als artiger Prosument nur die kleine Anregung, im sensiblen Sprachgebrauch von der Chancengleichheit auf die Chancengerechtigkeit zu wechseln.
Ersteres ist zwar der verfassungsgemäße Ausdruck, der ist vielleicht dort auch richtig so, weil daran die Ableitbarkeit von Nachteilsausgleichen, Gleichstellung etc. hängt. Die Chancengerechtigkeit (Gerechtigkeit im Sinne eines gemeinsamen Verständnisses von dem was richtig ist.) erkennt an, dass wir und unsere Chancen unterschiedlich sind. Das ist u.U. weniger stigmatisierend, weil die Implikation von Hilfsbedürftigkeit etc. nicht im Vordergrund steht.
Beste Grüße
Peter
Lieber Peter,
sehr gerne – und Danke für die positive Rückmeldung. Ein sehr guter Hinweis, macht spontan Sinn! Ich werde da nochmal drüber nachdenken.
Idee: Hättest Du eventuell Lust, über den begrifflichen Wechsel von Gleichheit zu Gerechtigkeit einen Beitrag bei uns zu schreiben? Wäre m.E. einen Beitrag wert!
Herzliche Grüße
Andreas
Hallo Andreas,
finde die Idee interessant, nicht nein, aber momentan nicht schnell. Vor allem muss ich da auch drüber nachdenken, welche Form da Sinn macht.
Beste Grüße
Peter